Schock

120 3 8
                                    

Mark blickte den rothaarigen Polizisten vor sich skeptisch an und schob Enya noch ein Stück weiter hinter sich. Lennox unterzog den Mann ebenfalls einer Musterung, doch ganz andere Fragen schossen ihm durch den Kopf.

'Mark Fasanell, es wird Zeit, dass wir uns unterhalten', hatte er gesagt.

Doch woher kannte er den Nachnamen von Mark und Enya?

Ryan erwachte als erster aus seiner Starre und brachte mühsam hervor:

„Was wollt ihr von ihm?"

Der scharfe und bedrohliche Unterton schien auch der Polizist zu bemerken und wich beschwichtigend einen Schritt zurück, die Hände beruhigend erhoben.

„Ich möchte mich nur mit euch unterhalten", sagte er, „es geht um eure Eltern.", fügte der Mann an die Geschwister gewandt hinzu.

Markt zuckte zusammen und Enya erstarrte. Lennox dachte an Marks Erzählung. Die beiden hatten lange Zeit im Kinderheim gelebt, doch war das immer so gewesen?

„Was...was meinen Sie?", stotterte Mark erschrocken.

Man sah ihm an, wie sehr er um Fassung rang. Ryan trat einen Schritt nach hinten und klopfte seinem Freund ermutigend auf die Schulter, bevor er...sich zurückzog? Tatsächlich! Der Anführer der Straßenbande entfernte sich humpelnd und unter starken Schmerzen von dem Polizisten und den Geschwistern, wies Lennox und die anderen an, es ihm gleich zu tun. Als Lennox keine Anstalten machte, Mark von der Seite zu weichen, fasste Ryan seinen Arm und zog ihn weg. Sie konnten die beiden doch nicht mit der Polizei alleine lassen?!

„Was tust du da, wir können sie doch nicht mit denen alleine lassen!", äußerte Lennox seine Missbilligung.

„Ich fürchte wir haben keine Wahl. Vertrauen mir, das...wir können ihnen jetzt nicht helfen."

Er vertraute Ryan, er vertraute ihnen allen, aber doch nicht diesen Polizisten, der mit Mark und Enya über ihre Eltern sprechen wollte. Ihre Eltern... Was wusste er überhaupt über diese Menschen? Nichts. Er hatte nicht einmal gewusst, dass die beiden richtige Eltern hatten, immerhin hatten sie lange Zeit im Kinderheim gelebt. Waren sie etwa aufgetaucht? Oder wieso sonst wollte der Mann mit den Geschwistern reden?

Ryan führte sie weg und schlug den Weg in Richtung Lager ein. Nach einigen Metern stellten sich ihnen jedoch Polizisten in den Weg, die Arme vor der Brust verschränkt. Ryan wollte ihnen gegenübertreten, doch er musste sich nach einem weiteren Schritt bereits wieder an einer Hauswand abstützen. Wenn sie das hier überstanden hatten, mussten sie sich erstmal erholen. Der Kampf war brutal und kräftezehrend gewesen, sie brauchten Zeit zur Regeneration. Doch die Polizisten vor ihnen würden Lennox und seine Freunde bestimmt nicht einfach gehen lassen. Sie waren schließlich Straßenkinder. Diebe. Abschaum. Lennox ballte die Hände bei der Erinnerung an Gribbers Worte zu Fäusten. Zwar war der Mistkerl besiegt, allerdings war scheinbar direkt das nächste Hindernis aufgetaucht.

Eigentlich hatte Lennox nicht sonderlich Lust, sich mit irgendwelchen Polizisten zu streiten und überlegte, seine Vergessensgabe einzusetzen. Dann entschied er sich jedoch dagegen. Vielleicht bekamen sie bei einem Gespräch Informationen über Mark und Enya. Und hoffentlich auch über ihre mysteriösen Eltern.

Lennox sah die vier Menschen vor ihnen genauestens an. Sie schienen ihn gar nicht wahrzunehmen, bis Noah ihm einen nervösen Blick zuwarf und die zwei Männer und zwei Frauen vor ihnen ihre Aufmerksamkeit auf Lennox lenkten.

Manchmal verfluchte er seine Gabe, doch oftmals war sie sehr nützlich. Beim Stehlen hatte er kaum Probleme und auch sonst konnte er beinahe alles tun, was er wollte, weil es sowieso niemand mitbekäme. Allerdings hatte ihn die Gabe auch eine lange Zeit sehr einsam gemacht. Er hatte nie soetwas wie jetzt, hatte nie echte Freunde. Eher würde die Hölle zufrieren, als dass der Junge mit den azurblauen Augen aufhören würde, für seine Freunde zu kämpfen!

Lennox trat vor und schob Ryan, der eine relativ aggressive Kampfhaltung angenommen hatte, hinter sich. Der Blonde durfte jetzt nicht auch noch die Polizei angreifen, das würde niemanden helfen! Erstaunlicherweise machte der Anführer der Straßenbande keinerlei Anstalten, sich zu wehren, sondern lehnte sich gegen Noah, der seufzend und tadelnd den Kopf schüttelte und Ryan dann schützte.

„Wenn Sie kein wichtiges Anliegen haben, sollten Sie besser aus dem Weg gehen.", sagte Lennox mit so wenig Gefühl wie möglich in der Stimme.

Eine Polizistin mit kurzem braunen Haar runzelte die Stirn, doch eine Antwort kam von einem hochgewachsenen jungen Mann mit Boxerschnitt.

„Ich nehme an, ihr seid Freunde der Fasanell-Geschwister, habe ich recht?"

„Ja, das sind wir. Was ist passiert, was wollt ihr von den beiden. Ich schwöre, wenn ihr ihnen wehtut, dann...", Ryan, den Noah noch immer stützte, knurrte, leise und doch bedrohlicher als jeglicher Schrei.

„Keine Sorge, sie sind in guten Händen. Wisst ihr, ihre Eltern haben sehr lange nach den beiden gesucht. Und jetzt haben wir Mark und Enya endlich gefunden. Außerdem sollten wir euch wohl danken, dass ihr diesen Verbrecher Gribber aufgehalten habt. Der Kerl wird jetzt für's Erste eine lange Zeit hinter Gittern verbringen.", sagte die braunhaarige Frau.

Einer der Männer sprach weiter:

„Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, wer ihr seid und was ihr getan habt. Wisst ihr, Diebstahl bleibt in dieser Stadt nicht ungestraft, genauso wenig wie Verletzung fremden Eigentums. Zudem dürftet ihr nach dem Gesetz gar nicht alleine auf der Straße leben. Ihr seid mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwo ausgerissen. Also bleibt uns keine Wahl, als euch mitzunehmen und gegebenenfalls zu euren Eltern oder entsprechenden Einrichtungen zurückzubringen!"

Lennox lief es kalt den Rücken hinunter. Er wich angesichts der Bedrohung vor ihnen einen Schritt zurück, sodass er neben Ryan stand. Dieser nickte ihm kurz zu. Mehr bedurfte es nicht. Lennox ging auf die braunhaarige Frau zu und blickte ihr tief in die Augen.

„Sie vergessen, dass wir hier waren!"

Dasselbe sagte sie auch bei den anderen Polizisten vor ihnen, bevor er sich wieder zu seinem Freunden drehte und mit ihnen zusammen weiterging.

Zurück beim Lager ließen sie sich im Gras nieder und Noah zog Ryan das T-Shirt über den Kopf um seine Wunden zu analysieren. Der Junge mit den obsidianschwarzen Augen hatte wieder einmal ein paar Prellungen und Schürfwunden, doch nach diesem Kampf war das auch kein Wunder. Nichts gebrochen, nicht ernsthaft.

So saßen sie zurück im Lager und warteten. Lennox wollte am liebsten losstürmen und Mark und Enya unterstützen, doch er wusste, dass er in so einer Situation nichts tun konnte. Hoffentlich konnten die Geschwister der Polizei nach ihrem Gespräch entkommen! Also warteten Lennox und die anderen. Die Sonne war grade aufgegangen und der Himmel war von Wolken übersäht. Sie warteten den ganzen Tag. Sie versorgten ihre Wunden und bekräftigten sich gegenseitig. Doch auch als die Sonne bereits ihren höchsten Punkt erreichte, gab es noch immer keine Spur von den beiden.

Jedenfalls bis es im Gebüsch raschelte und zwei Gestaltung auf die Lichtung traten. Mark und Enya! Doch irgendetwas stimmte nicht. So hatte Lennox die beiden noch nie gesehen... Beide Geschwister weinten und stürzten sich sofort auf ihre Freunde. Ryan fand inmitten der stürmischen Umarmung als erstes die Stimme wieder:

„Was ist passiert?"

So eine simple Frage  und doch kam nicht direkt eine Antwort. Dann atmete Mark einmal tief durch und fuhr sich durch die Haare. Er sah noch ein Mal zu Enya, bevor er verkündete:

„Wir werden euch verlassen. Enya und ich...wir verlassen die Stadt."

___________________________________________

New Chapter! Ich bin in letzter Zeit nicht wirklich zum Schreiben gekommen, deshalb hat es so lange gedauert. Aber jetzt wird es wieder regelmäßig Updates geben, das erste noch vor dem Wochenende.

Reise durch die SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt