Kapitel 3

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Das Zeitgefühl hatte sie hier drin schon längst verlassen und es war unmöglich einzuschätzen, wie lange sie schon im Vorratsraum hockte. Inés' Atem ging schnell. Bereits wenige Sekunden nachdem Adrania sie hier hereingebracht hatte, war sie von der Angst überfallen worden. Warum waren dort draußen Reiter gewesen? Warum hatte Adrania solche Angst? Waren die Reiter etwa ein Heer? Und wenn ja, was wollten sie hier? Suchten sie nach ihnen, oder zogen sie hier bloß vorbei? Und was hatte ihre Tante ihr sagen wollen, kurz bevor die Pferdehufe zu hören gewesen waren? Inés fühlte sich hilflos wie noch nie zuvor. Sie hatte tausend Fragen und keine einzige Antwort. Wie gerne wäre sie nur herausgegangen, zu ihrer Tante, um sie aus der Gefahr zu bringen. Herrschte die Gefahr überhaupt noch? Zuerst waren laut gerufene Befehle und das Schnauben der Pferde draußen zu hören gewesen, doch seit einer Weile war alles still. In dieser ewig dunklen Reglosigkeit, mit der sie im Vorratsraum verharrte und dieses bohrende Schweigen hörte, überkam sie die Angst erneut. Tausende Möglichkeiten, was die Reiter mit Adrania angestellt haben können, hämmerten mit ihrem Herzschlag durch ihren Kopf. Ich darf jetzt nicht durchdrehen, befahl sie sich in Gedanken. Ich muss stark bleiben und nicht an das denken, was schief gegangen sein könnte. Denn es durfte nichts schief gehen. Wenn sie Adrania ... verlor, wo sollte sie dann weitermachen? Langsam schlichen sich Tränen in ihre Augen. Panik. Sie bekam Panik. Zwar vertraute sie ihrer Tante vollkommen und war zu Anfang entschlossen gewesen, wirklich zu warten, bis diese die Luft als rein verkündete, doch nun hielt sie es nicht mehr aus. Langsam und ganz leise richtete sie sich auf und drehte den Türknauf herum. Er quietschte unangenehm und sie erstarrte, hielt den Atem an. Als sich nichts regte, fuhr sie fort. Ein leises Klicken war zu hören als die Tür einen Spalt weit aufsprang. Sie atmete noch einmal tief durch, dann drückte sie die Tür langsam auf. Sie flitzte aus dem Raum und presste sich an die Wand, sodass sie vom Eingang des Hauses nicht gesehen werden konnte. Eine Zeit lang passierte nichts. Dann hörte sie auf einmal Schritte und das Blut in ihren Adern gefror. Sie wagte es nicht um die Ecke zu schauen.

„Inés! Warum bist du nicht mehr im Vorratsraum?!", sagte eine besorgte Stimme. Inés wirbelte herum und fiel ihrer Tante in den Arm, doch bevor einer der beiden noch etwas sagen konnte, zischte ein Pfeil an ihnen vorbei und zerstörte eine der Glasscheiben der Front hinter ihnen. Inés schrie und Adrania drängte sie hinter sich, bereit, sie mit ihrem Leben zu verteidigen. Doch der Schütze, der den Pfeil abgegeben hatte, war schon aus dem Haus gestürmt und verschwand gerade zwischen den Bäumen. Adrania drehte sich ruckartig zu Inés um und drückte ihr einen Beutel in die Hand. „Mein Schatz, ich liebe dich, aber nun musst du fliehen." 

„Aber ... aber was soll das Ganze?! Ich will wissen, was los ist!" sagte Inés und fühlte sich hilfloser denn je. Doch Adrania schüttelte den Kopf. „Ich kann es dir nicht erklären, dafür bleibt keine Zeit, aber fliehe vor diesem Vogel, hörst du?" sagte sie eindringlich. In ihrem Gesicht lagen Angst, Entsetzen, Liebe und Hilflosigkeit. „Der Feuervogel?" fragte Inés. „Der Phönix, ja. Flieh!", rief ihre Tante. Inés hatte noch so viele Fragen, die sie ihr stellen wollte, aber mit einem letzten Blick in die Augen ihrer Tante wandte sie sich ab und stürmte aus dem Haus. 

Es waren die schwersten Schritte ihres Lebens. Sie wollte ihre Tante nicht allein lassen, sie wollte ihr um jeden Preis helfen, aber in Adranias Augen hatte eine Ernsthaftigkeit gelegen, die sie rennen ließ. Ein letztes Mal drehte sie sich um. Sie sah zu ihrer Tante, die vor dem kleinen idyllischen Häuschen stand, das sie so sehr liebte. Nie wieder würde sie es sehen, und das war ihr klar, wahrscheinlich das Einzige, was sie wusste. Auf einmal hörte sie einen markerschütternden Schrei und der flammende Vogel tauchte über der Lichtung auf. Adrania riss die Augen auf und fiel auf die Knie. Sie schien Schmerzen zu haben, große Schmerzen. Inés wollte zu ihr laufen und sie beschützen, aber der Blick ihrer Tante hielt sie zurück. Sie war unfähig etwas zu sagen, doch ihre Lippen formten die Worte Ich liebe dich. Inés standen Tränen in den Augen. Sie flüsterte „Auf Wiedersehen", und hoffte, dass sie damit Recht behalten würde. Den einzigen Menschen, den sie kannte und den sie liebte hier zurückzulassen, unter endlosen Schmerzen, tat weh. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon, doch alles kam ihr vor wie in Zeitlupe. Der Schmerz in ihrem Herzen pochte und sie war unfähig zu verstehen, was passiert war.

Fast eine halbe Stunde lang war sie ohne Pause gerannt, bis sie nicht mehr konnte. In Sicherheit war sie noch lange nicht, aber sie war zu erschöpft. Schwer atmend ließ sie sich unter einer großen Argae nieder und fing an zu weinen. Was war bloß geschehen? Vor wenigen Tagen war die Welt noch heil gewesen und nun ... tja, was war nun? Sie hatte ihr Zuhause verloren, ihre Tante, ihre Unbeschwertheit und ihre Sicherheit. Praktisch alles, was sie besaß. Was hatte sie denn nun noch? Sich selbst, ihre Verzweiflung, tausend Fragen im Kopf und ... den Beutel, den Adrania ihr noch in die Hand gedrückt hatte. In den hatte sie noch gar nicht hineingeschaut! Langsam griff sie die zwei Kordelenden, die ihn geschlossen hielten und drehte ihn einmal zwischen Zeigefinger und Daumen. Von außen war es ein gewöhnlicher braun-grauer Lederbeutel, der nicht besonders schwer war und auf ihre Handfläche passte. Dann zog sie an einem Ende und öffnete ihn. Im Inneren lagen eine Goldmünze und eine ausgerissene Seite aus einem Buch. Inés nahm sie heraus, faltete sie auf und erkannte sie sofort. Es war die Buchseite gewesen, die Adrania so besorgt gemacht hatte, die von dem Feuervogel. Angestrengt versuchte sie, ein paar der Buchstaben zu entziffern, aber sie schaffte kaum etwas. An manche der Zeichen erinnerte sie sich von früher, wenn Adrania ihr ein Buch vorgelesen hatte. Sie wusste, wie ein großes G aussah, und sie kannte die Buchstaben mit den zwei Punkten obendrauf, weil sie die als Kind immer so lustig gefunden hatte. Auch das kleine A und K kannte sie noch, aber viel mehr auch nicht. Bald gab sie wieder auf und dachte darüber nach, warum ihre Tante ihr diese Dinge mitgegeben hatte. Eigentlich war es klar: Die Goldmünze war für Essen da und die Buchseite dafür, dass sie herausfand, warum sie hatte fliehen müssen. Sie seufzte. Wenn sie bloß lesen könnte! Als sie den Zettel gerade wieder zusammenrollen wollte, bemerkte sie noch etwas. Ganz unten auf der Seite hatte ihre Tante noch eine Notiz hinzugefügt, wahrscheinlich ein Hinweis, wie Inés vermutete. Aber ohne lesen zu können half ihr das erstmal auch nicht viel weiter. Als sie den Beutel schon wieder verschließen wollte, fiel noch etwas heraus. Eine Blume, eine Rose, um genau zu sein. Doch es war keine gewöhnliche Rose. Nein, diese hier war feuerrot. Selbst der Stiel sah so aus als könnten jeden Moment Flammen herauszüngeln. Sie fühlte sich elend und ihr Kopf war nun mit noch mehr Fragen gefüllt. Also raffte sie sich wieder auf und setzte ihre Flucht fort, hinaus aus dem Wald, in dem sie ihr gesamtes Leben verbracht hatte.

Kind des FeuersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt