Kapitel 17

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Die Wachen ließen sie ohne ein Wort vorbei. Inés warf einen misstrauischen Blick zurück, als sich das Tor hinter Robin wieder schloss. Sollten sie – egal aus welchen Gründen – fliehen müssen, würde sich dies äußerst schwierig gestalten.
Sie befanden sich nun in einem kleinen Innenhof direkt an der Außenmauer. Über ihnen waren die Vorrichtungen der Bogenschützen vor den Schießscharten gelegen. Um den gepflasterten Weg zu ihren Füßen wanden sich zierliche Blumenbeete, deren Blütenpracht sich allerdings in Grenzen hielt.

Begína wartete mit undurchdringlichem Blick am Ende des kleinen Hofes auf sie.
Inés schritt voran, Robin dahinter. Beide zeigten keine Gefühlsregung, wenn es auch in ihnen brodelte. Angst, Vorsicht, Misstrauen regte sich in ihnen. Aber auch Hoffnung. Die Hoffnung, Adrania zu finden. Und vielleicht auch Inés' Mutter. Nach Begínas Erzählungen schien sie auf ihrer Seite zu sein. Es war Hoffnung und nur Hoffnung, die die beiden vorangehen ließ. Sobald diese schwinden sollte, hielte sie nichts mehr hier. Aber würde eine Flucht nicht auch bedeuten, dass Robin und Inés wieder gejagt werden würden? Oder hatten sie nun die Gunst des Königs?
„Folgt mir." Mit einem Handzeichen zog Begína sich in den Schatten eines Torbogens zurück, der weiter in einen dunklen Gang führte. Nach einigen Metern folgte eine Treppe, die offenbar eine Bedienstetentreppe sein musste. Warum führte Begína sie diese Treppe hinauf und nicht eine der offiziellen? Inés' Muskeln spannten sich unwillkürlich an, doch es gab keinen Feind, vor dem sie sich hätte verteidigen können. Nur den Hall der drei Fußpaare auf dem kalten Stein. Irgendetwas war falsch. Außer ihnen war niemand hier. Hatte Begína diesen Weg gewählt, um unentdeckt zu bleiben? Als die Treppe in einen engen Gang mündete, stellte Inés sich in den Weg.
„Was soll das? Versuchst du uns zu verstecken? Weiß der König etwa nicht von uns?" Begínas Augen wurden schmal. „Natürlich weiß der König Bescheid. Er hat euch doch zu sich gebeten, wie ich euch bereits wissen ließ." Es entging Inés nicht, dass Begína ihre erste Frage unbeantwortet ließ. Doch diese drängte sich nun an ihr vorbei und führte sie den Gang entlang. Inés begegnete Robins Blick, doch sie konnte ihn nicht deuten. Auch ihm war die Sache nicht geheuer, aber er schwieg.
Inés wurde bald klar, wie unmöglich eine Flucht aus dem Schloss für sie werden würde. Nie war die in einem so riesigen Gebäude gewesen, so riesig und so verwinkelt, so unübersichtlich und verschachtelt erschien es ihr. Begína kannte sämtliche Wege, doch für Robin und sie würde es nicht möglich sein, den Weg, den sie durch das Schloss nahmen, wieder zurückzufinden.
Die Gänge wurden weiter, die Räume pompöser, bis Begína abrupt stoppte und an eine Tür mit schmiedeeiserner Verzierung klopfte. Ein Soldat in rot-weißer Uniform öffnete. Bei Begínas Anblick verbeugte er sich und ließ die drei hinein.
Der Raum war kreisförmig im Inneren, offenbar befanden sie sich in einem Turmzimmer. Er

war gerade groß genug, dass Inés ihn mit wenigen Schritten hätte durchqueren können. Die Decke über ihnen war ein einziger Stoffhimmel, der den schneeweißen mit Stuck verzierten Stein darüber erkennen ließ. Die Wände waren übersät mit goldenen Verzierungen, Bücherregalen und Karten des Reiches. Zur Südseite hin gab ein weites Fenster den Blick auf die Gärten des Schlosses frei, in denen sich Rosenbüsche um Säulen rankten.

Doch die Aufmerksamkeit aller lag auf dem Mann, der in der Mitte des Raumes hinter einem achteckigen Tischchen stand. Er trug schwere Roben um den Körper geschlungen, deren Schmuck seine Macht widerspiegelten, und die gleichzeitig rüstig und kampfbereit wirkten. An der Hüfte führte er ein Schwert mit sich, dessen rubinroter Griff die Sonnenstrahlen brach.

König Andin.
Sein Blick sprach von Hass, den Inés unverhohlen zurückwarf.
Begína war die erste, die es wagte zu sprechen, doch sobald sie zu ihrem ersten Wort ansetzte, hob König Andin die Hand und gebot ihr damit zu schweigen. Begína machte einen vorsichtigen Schritt nach hinten. Robin und Inés standen nun ungeschützt vor dem Mann, der ihnen Rettung wie Untergang bedeuten konnte.
„Deine magischen Kräfte haben mich damals sehr in Verlegenheit gebracht, weißt du das?" Inés wagte es nicht, etwas zu erwidern.
„Die Nachfahrin des Königs, eine Magierin. Unvorstellbar! Was hätte ich also auch tun sollen?" Er schlug ein Buch auf, das vor ihm auf dem Tisch lag, schwer und alt, und blätterte darin, ohne seinem Inhalt irgendwelche Beachtung zu schenken.
„Letztendlich war es leichter als gedacht, dich verschwinden zu lassen. Ich befahl, dich auszusetzen. Im Wald, wo du nicht überleben würdest. Ich lebte in der Annahme, du seist tot."
Er schlug das Buch ruckartig zu, musterte Inés einen Augenblick lang eindringlich und ging um den Tisch herum auf sie zu. Robin griff schützend Inés' Arm, doch diese blieb, wo sie war. Sie würde keine Angst zeigen. Der König sollte wissen, dass sie stark war.
„Wie es scheint, hast du entgegen meinen Erwartungen äußerst lebendig Tag um Tag in einer maroden Hütte mit einer alten Frau verbracht."
Inés sog die Luft ein. Er wusste von Adrania.
„Besagte Frau befindet sich jetzt gerade, in diesem Moment, nur wenige hundert Meter entfernt im Schlosskerker."
Das war der Moment, in dem Inés' Maske zusammenbrach. Die Stärke, die sie hatte zeigen wollen, schmolz und schrumpfte zu einem einzigen Gedanken zusammen: Er hatte sie. Er hatte sie, und sie war hier. Etwas wogte über sie hinweg, machte sie unfähig zu reagieren. In ihr verbanden sich Wut, Angst und Verzweiflung zu einem einzigen Knäuel aus Gefühllosigkeit.
Bevor sie etwas sagen konnte, zog Robin sie hinter sich. Der Blick des Königs zuckte zu ihm. Robins Stimme war fest. „Lasst sie frei. Lasst Adrania gehen, und Inés mit ihr."
„Darin sehe ich keinen Nutzen", antwortete Andin kalt. „Viel mehr hatte ich einen ganz anderen Plan." Er symbolisierte dem Soldaten, Robin mit sich zu nehmen. „Ein tragisches Liebespaar stört nur unsere Verhandlungen."
Inés verschwendete keine Worte darauf, dem König zu sagen, dass Robin und sie bloß befreundet waren. Sie handelte, ohne nachzudenken.
Sie schlug ihrem Vater in das Gesicht.

Es hätte schlimmer kommen können.
Robin war verschwunden. Inés war an die Wand des Raumes gefesselt.
Aber immerhin war sie noch am Leben.
In ihrem Kopf raste ein Fluchtplan an dem nächsten vorbei, doch keiner von ihnen hatte auch nur ansatzweise eine Chance auf Erfolg. Sie wusste nicht, wo Robin war, wo Adrania war, wie sie die beiden retten konnte. Denn das musste sie.
Aber was sollte sie tun?
„Wie ich vorhin sagte: ich habe Pläne mit deiner ... Tante. So nennst du sie, nicht?"
Inés gab keine Antwort.
„Wie auch immer. Begína erzählte dir bereits von der misslichen Lage, in der unser Land sich befindet?" Begína am anderen Ende des Raumes nickte scheu.
„Gut. Ich möchte gleich zur Sache kommen: Du kämpfst für mich. Sollten wir den Krieg gewinnen, bekommst du Adrania zurück. Ihre verräterische Tat, dich aufzunehmen, wird ihr verziehen. Ihr dürft gemeinsam in eure armselige Hütte zurückkehren. Ich denke, für eine aufsässige Nachfolgerin dürften die Bedingungen sehr milde sein. Was sagst du, Verstoßene?"
Doch Inés kam nicht dazu, auch nur die Bedingungen abzuwägen. Denn in diesem Moment waren auf dem Gang energische Schritte zu hören, eine scharfe Stimme. Dort kam eine offenbar vor Wut rasende Frau in ihre Richtung. Inés blickte verunsichert auf, auf dem Gesicht des Königs zeigte sich Erkennen und schließlich so etwas wie Angst, was unter seinem harten Blick unwirklich schien. Begína hingegen schien fast erleichtert, auch wenn sie dies zu verbergen versuchte.
Dann schwang die Tür krachend auf und die Frau trat herein. Inés erkannte sie sofort.
Dort stand, mit wirrem Haar und verknittertem Kleid, ihre Mutter.

Kind des FeuersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt