Kapitel 5

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Stille.

Das tat gut.
Inés war jetzt schon seit zwei Tagen in Orsilva, und alles war laut. Überall passierte etwas. Menschen riefen sich den neusten Tratsch durch Hausfenster hindurch zu, überall Schmieden, von denen man den Schmied hämmern hören konnte, Menschen, die auf dem Markt frisches Obst kauften. Trubel, Hektik. Das hatte sie von zuhause nie gekannt.
Dazu kam noch die Quasselstrippe Robin samt Vater und Schwester, die trotz allem unglaublich nett waren.
Jetzt saß sie allein am Rand des Dorfes. Hier begann der Wald wieder, unter ihr, in einer Schlucht, an dessen Rand sie ihre Füße baumeln ließ. Bis hier hin hörte man den Lärm der Menge nicht. Und trotzdem war sie unglaublich aufgewühlt.
Es war ein Gefühl, das man kaum beschreiben kann. Es hat etwas Melancholisches, als erinnere man sich an etwas, was noch gar nicht geschehen war. Etwas, was man nie erlebt hat. Und doch ist es da, irgendwo. Es ist eine Gefühl der Verzweiflung, der Bestürztheit, der Machtlosigkeit. Des Endes. Als würde sich das Herz weit öffnen und all das herausschreien, was es nicht bergen will. Doch der Kopf weiß, dass es das alles bergen muss, und so kämpft er dagegen an. Füllt es wieder und wieder. Wie ein Lied, das von einer Flucht erzählt, von Gefahr. Und vom Trauern. Schmerz. Es schmerzt. Tief in einem drin, da schmerzt es. Als drücke die Hilflosigkeit einen nieder. Man sackt in sich zusammen, will, dass es aufhört. Doch man muss standhalten. Immer weiter. Und schließlich weint man.
Auch Inés weinte. Bitterlich weinte sie. Sie saß dort und ließ die Tränen, langsam und schmerzvoll, die Verzweiflung wegspülen. Doch es brachte nichts.
Adrania hatte ihr gesagt, sie soll sich von dem Phönix fernhalten. In ihrer Notiz auf der Buchseite sagt sie, es sei nicht alles so, wie es scheine. Was war mit diesem Vogel? Warum sollte sie flüchten? Und, vor allem, warum hatte es Adrania solche Schmerzen bereitet, als er über der Hütte geflogen ist?
Adrania. Wo war sie? War sie wirklich tot? Gestorben? Oder sollte sie lieber sagen ... ermordet? Etwa von dem Vogel?
Nein. Nein.
Sie war nicht tot. Inés wusste, dass sie sich das bloß einredete, aber es half. Und vielleicht war es sogar die Wahrheit. Vielleicht.
Da hörte sie Schritte hinter sich. Sie verharrte, bis die Person neben ihr stand, und sie erkannte die nackten Füße.
„Robin. Hallo." Sie versuchte nicht einmal, sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Er setzte sich neben sie. Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas. Robin schien genau zu wissen, wie es Inés ging, und so tat ihr sein Schweigen gut. Sie brauchten nichts zu sagen, und doch schien es, als verstünden sie sich.

Doch schließlich schien er etwas loswerden zu wollen, was sich nur mit Worten sagen ließ. Mit seinen Worten. Er holte tief Luft:
„Ich werde mit dir gehen."
Sie schrak zusammen. Sie hatte nicht erwartet, dass er so weit gedacht hatte. Doch natürlich hatte er Recht.
„Willst du nicht, dass ich mitkomme? Nerve ich? Rede ich zu viel?"
Das lockte ein mickriges Lächeln aus ihr heraus. Doch dann seufzte sie schwer. „Nein, Robin. Bleib du lieber hier. Das wird gefährlich, das weißt du."
„Meine Güte, Néssy. Ich bin nun wirklich ein strammer Bursche. Und außerdem kann ich wenig essen, wenn ich das will. Das heißt, wenn du mich mitnimmst, wirst du kaum einen Unterschied bemerken. Oh, und zwar, weil du das ja gar nicht kannst. Ich bin wie Luft. Manchmal. So ein säuselnder Wind, weißt du? Gespenstisch und voller Geräusche." Er schien zufrieden mit seiner Argumentation und nickte, als wolle er sich selbst beipflichten.
Inés verdrehte halbherzig die Augen. Doch dann wurde sie wieder ernst. „Du könntest ... verletzt werden."
„Ich weiß. Und wie es aussieht, könnte ich auch sterben." Inés versetzte es einen Stich, doch Robin redete weiter.
„Denkst du wirklich, ich würde hierbleiben? Ich meine, wie doof wäre das denn? Entweder, ich bleibe hier, werde Schmied wie mein Vater, heirate und kriege tausend Kinder und frage mich immer wieder, was denn nun mit Néssy passiert sein könnte. Was da war, mit diesem Vogel. Im Ernst, das ist Magie! Das sieht man hier nicht alle Tage, und dann auch noch Feuermagie. Oder ich komme mit dir, erlebe das Abenteuer meines Lebens und finde heraus, was es mit diesem Vogel auf sich hat. Weißt du jetzt, was ich meine? Hier zu bleiben wäre wirklich eine dämliche Entscheidung."
Er rüttelte an ihrer Schulter. „Nimm mich mit, Néssy. Du bist doch eigentlich superschlau. Das sehe ich an deinen Augen."
Sie sah ihn stirnrunzelnd an. Sein Gesicht hellte sich auf. „Doch, wirklich! Ich sehe das! Da ist so ein Glitzern, und das heißt, dass du ganz doll neugierig bist. Und neugierige Leute sind immer die schlausten. Hat mir mein Großvater mal erklärt. Oooooh und jetzt funkelt da was! Das heißt ja. So funkelt es bei Papa auch immer, wenn er mir gleich was erlaubt! Danke, Néssy!" Er umarmte sie stürmisch, sodass sie beide nach hinten umfielen und nun auf dem Rücken lagen. Inés sah ihn an, und sie mussten lachen.
Das Lachen löste all die Beschwertheit aus ihrer Brust. Sie lachte frei, ihr Herz stoppte zu schreien, und nun lächelte es wohlig. Ein Gefühl der Wärme breitete sich in ihrem gesamten Körper aus, während sie lachten.
Und schließlich blickte sie ihm in die Augen. Er wirkte ganz aufgeregt.
„Robin. Ich nehme dich mit." Er wollte schon einen Jubelschrei ausstoßen, als sie mahnend den Zeigefinger hob: „Unter einer Bedingung." Seine Arme wurden schlaff. „Mach bloß nicht den", meinte er genervt. Inés grinste. „Nenn mich niemals wieder Néssy."
Er lachte und streckte ihr die Zunge heraus.

Und damit war es besiegelt.
Inés und Robin würden Adrania finden. Koste es, was es wolle.

Kind des FeuersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt