Kapitel 4

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Sie hatte kein Gefühl dafür, wie lange sie schon über den steinigen Waldboden gelaufen, über Baumstümpfe gesprungen und durch Bäche gewatet war, als sie schließlich auf einer kleinen Lichtung zusammenbrach. Das letzte, was Inés sah, war der Vollmond, er stand schon hoch am Himmel. Dann wurde es schwarz vor ihren Augen.

Als Inés ihre Augen aufschlug, strahlte ihr die gleißend helle Sonne entgegen. Schnell schloss sie die Augen wieder. Alles drehte sich. Es roch nach morgendlichem Tau und Heidekraut. Inés brauchte ein paar Sekunden, um sich wieder zu erinnern, was alles passiert war. Wach geworden war sie von einem dumpfen, seltsamen Geräusch. Nein, kein Geräusch, eine Stimme. Sie versuchte sich auf das zu konzentrieren, was die Person sagte. „Hallo, kannst du mich hören? Bist du verletzt?" Erneut schlug Inés ihre Augen auf und strengte sich an, sie dieses Mal nicht sofort wieder zu schließen. Nach einigen Sekunden hörte alles auf sich zu drehen und sie sah den Jungen, der sich über sie beugte. Er hatte braunes, verstrubbeltes Haar und eisblaue Augen. Bekleidet war er mit einem Hemd, das vollkommen mit Erde beschmutzt war, und einer braunen Lederweste. Seine Hose bestand aus Leinen und war ebenfalls sehr dreckig.

Langsam rappelte sie sich auf. „Puh, du lebst noch! Ich dachte schon, ich müsste dich beatmen oder so. Hab nämlich keine Ahnung von sowas." Er klang erleichtert. Das Erste, was Inés nach einem peinlichen Schweigen herausbekam, war: „Wer bist du?" „Ich heiße Robin. Wer bist du? Ich hab dich noch nie hier gesehen, du bist sicher von weit her, oder? Was ist passiert? Wieso hast du kein Gepäck bei dir und kein Pferd?"

Überfordert von all seinen Fragen lehnte Inés sich an einen Felsen, der hinter ihr stand. Sie sah erschöpft aus. Ihre feuerroten Haare fielen verknotet und zerzaust über ihre rechte Schulter. Tiefe Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab. Kein Wunder, sie musste stundenlang ohne Pause durch den Wald gerannt sein. „Inés. Ich heiße Inés.", brachte sie heraus. „Schöner Name! Willkommen in Orsilva, unserem kleinen Dorf am Rande des Argaenwaldes. Wie gesagt, ich bin Robin und ich wohne mit meinem Vater, er ist Schmied, und meiner kleineren Schwester schon hier, seit ich denken kann..." Während Robin nicht aufhören wollte und Inés seine komplette Lebensgeschichte erzählte, brachen all die Gefühle vom vorherigen Tag wieder über sie hinein. Die Angst wegen der Reiter und des Phönix, die Sorge um ihre Tante und die Unwissenheit über das alles. Sie legte ihren Kopf auf die Knie und begann leise zu schluchzen. Sie wollte aufstehen, einfach wieder zurückrennen und Adrania umarmen und dann ihr altes Leben weiterleben. Doch es würde nie wieder so werden, wie es einmal war. Nie wieder.

Robins einfühlsame Stimme riss sie aus ihren Gedanken: „Was hast du denn? Bist du doch verletzt?" Inés atmete einmal tief durch und dann erzählte sie ihm zögernd die Geschichte in Kurzform. Ob das klug war, wusste sie nicht, aber jemandem musste sie sich anvertrauen. Und dieser Robin schien ein netter Bursche zu sein. „Nein, aber... aber ich bin nicht auf Reisen, sondern geflohen. Da waren Reiter und... und die haben meine Tante und mich angegriffen und sie... sie..." Inés konnte es einfach nicht aussprechen und war ihm endlos dankbar, als er es für sie tat. „Sie hat dich weggeschickt, um dich zu beschützen und jetzt ist sie vielleicht... tot?" Bei dem letzten Wort stöhnte Inés erschrocken auf. Dieser Robin hatte gerade alles ausgesprochen, was sie die ganze Zeit über zu verdrängen versuchte. Doch es war sinnlos.

Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, bemerkte sie noch etwas anderes. Sie hatte Hunger. Auch wenn es ihr etwas peinlich war, fragte sie Robin, ob er vielleicht etwas Essbares bei sich trug: „Du siehst so aus, als könntest du mehr als das Brötchen in meiner Tasche vertragen. Komm, ich nehm dich mit nach Orsilva. Es ist nicht weit und da gibt's Suppe, Gulasch und Käsebrötchen im Überfluss."

Inés war erst nicht begeistert von der Vorstellung, noch mehr Menschen kennenzulernen. Immerhin war Robin gerade mal der zweite Mensch, den sie in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Doch der Hunger überwog und sie folgte Robin einen schmalen Pfad entlang, der nach wenigen Minuten auf eine größere Straße mündete. Kutschen, von starken Pferden gezogen, fuhren vorbei. Inés zuckte zusammen, doch Robin erklärte ihr, dass es nur die Bauern waren, die ihr Getreide an die Läden und Gaststätten lieferten. Wider Erwarten gefiel es ihr ziemlich gut dort. Es gab viele Häuser. Nicht zu vergleichen mit ihrem Zuhause im Wald. Die Gebäude waren symmetrisch und nicht so bewachsen. Aber auch lange nicht so schön wie die kleine Hütte im Wald mit ihrem schiefen Dach und der Wand, die aussah, als bestünde sie nur aus reinem Efeu. Neugierig musterte Inés die Menschen. Sie waren alle so verschieden und doch alle ähnlich. Die Frauen trugen dreckige Schürzen und versteckten ihr Haar unter Hauben derselben Farbe. Doch so öde wie sie auch gekleidet sein mochten, alle beisammen sahen sie glücklich aus. Sie redeten, lachten und umarmten sich zum Abschied. Die Männer waren alle ähnlich gekleidet wie Robin. Sie tranken, aßen und redeten über ihre Arbeit. Auch Inés wurde intensiv gemustert. Kein Wunder, mit ihren feuerroten, unbändigen Haaren und ihrer bunten und zusammengeflickten Kleidung fiel sie auf.

Robin führte sie schließlich zu einem Haus. Daneben befand sich noch ein Anbau, aus dem Funken stoben. Ein Mann stand darin und schlug mit einem Hammer auf ein Stück Metall ein. „Vater! Vater! Ich hab im Wald ein Mädchen gefunden. Sie braucht dringend was zu essen." Leise fügte er noch hinzu: „Und ich übrigens auch..." Der Mann trat aus dem Rauch. Er war ganz und gar mit Ruß verschmiert. Seine Gesichtszüge waren liebevoll, ähnlich denen von Tante Adrania. Schnell stellte Inés sich vor, bevor er anfangen würde, genauso viel zu reden wie sein Sohn: „Hallo, mein Name ist Inés. Entschuldigen Sie die Umstände, aber hätten Sie eventuell eine Kleinigkeit zu essen für mich?"

Inés wurde ins Haus geführt. Während der Schmied eine Suppe über der Feuerstelle zubereitete, fragten beide sie aus. Woher kam sie? Was war passiert? Sie fragten eigentlich nach allem aus ihrem Leben. Auch wenn es für sie schwer vorstellbar war, dass das überhaupt ging, redete sein Vater noch viel mehr als Robin selbst. Zuerst hatte Inés Bedenken ihnen alles zu erzählen, doch irgendwie musste sie Hilfe bekommen. Allein würde sie vorerst nicht in dieser Welt, von der sie nichts kannte, zurechtkommen. Außerdem tat es gut, das alles mal rauszulassen. Auch Robins Schwester kam nach einiger Zeit schüchtern aus ihrem Zimmer und horchte Inés' Geschichte. Sie war klein und sah Robin sehr ähnlich, die gleiche Stupsnase und die verstrubbelten Haare, die sie versucht hatte, in einem langen Zopf zu bändigen. So saß Inés dort mit den dreien, bis die Sonne unterging. Da merkte sie erst, wie müde sie war. Robin führte sie in ein Zimmer unterm Dach. Es gab ein gemütliches Bett, einen Schrank und eine kleine Kommode. Als sie mit Robin allein war, fasste sie ihren ganzen Mut zusammen und stellte ihm diese eine Frage, die ihr die ganze Zeit schon auf der Zunge brannte: „Robin, kannst du lesen?" Als er dies schmunzelnd bejahte, kam Inés sich etwas blöd vor. Hätte sie sich doch denken können, dass das hier normal war. Aber es machte sich auch Hoffnung in ihr breit. „Würdest du mir etwas vorlesen?" Auch das bejahte er und Inés holte das Säckchen heraus. Vorsichtig rollte sie das Blatt auseinander.

 Vorsichtig rollte sie das Blatt auseinander

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Kind des FeuersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt