Kapitel 20

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"Alles in Ordnung?", wollte Hayley wissen, "Du hast nach...du weißt schon wem geschrien..." Ich biss mir peinlich berührt auf die Unterlippe, "Mir gehts gut, lass uns gehen!" Mit diesen Worten stand ich auf und verließ die Bibliothek. Schnurstracks ging ich in Richtung unseres Zimmers und sagte kein Wort mehr. Hayley folgte mir stumm und wies die anderen mit einem Handzeichen an, mich in Ruhe zu lassen, als diese sich zu uns gesellen wollten.
Im Zimmer angekommen sprach ich immer noch kein Wort, sondern ordnete stumm meine Schulsachen für den nächsten Tag. "Sky?", begann Hayley hinter mir vorsichtig, als sie gerade die Tür geschlossen hatte, "Du weißt, dass das so nicht weitergehen kann? Ständig träumst du von ihm, das...ist nicht gesund..." "Ach was? Denkst du ich weiß das nicht? Denkst du ich will etwa von ihm träumen?! Ich will ihn verdammt nochmal einfach vergessen, aber so einfach ist das nicht! Der Kerl hat mich aufs Übelste hintergangen und mir das Herz herausgerissen, also tut mir leid, wenn ich dann nicht sofort normal sein und ihn loslassen kann!", mit vor Wut funkelnden Augen drehte ich mich zu ihr um, "Und nicht zu vergessen: Ich muss mich ja darauf vorbereiten, dass er mich eventuell wieder ruft, wenn er was auch immer von mir will..." Zähneknirschend und den Tränen nahe sah ich sie an. Ihre Miene wurde wieder mitleidig: "Ich weiß, das tut mir alles so leid, aber ich will dir doch nur helfen!" "Du willst helfen?", fragte ich zickiger als gedacht, "Dann lass mich in Ruhe!" "Okay, aber wir wissen beide, dass der Grund deiner Wut nicht ich bin! Also lass sie gefälligst woanders raus!", dann drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ unser Zimmer.
Seufzend setzte ich mich auf mein Bett. Sie hatte Recht, ich verhielt mich unfair ihr gegenüber. Das hatte sie nicht verdient, sie wollte mir doch nur helfen. Jetzt hatte ich sie vergrault und wusste nicht, was ich jetzt machen sollte. Also widmete ich mich der einen Sache, die mich im Moment am meisten ablenken konnte: Schulkram.
Ich stand auf und setzte mich an den Schreibtisch. Ich hatte ein neues Fach vor kurzem dazubekommen, was mich wirklich interessierte: alte Mythen und Legenden. Wir lernten hier über die alte Zeit vor einigen von Jahren. Manches kam mir bekannt vor, doch ich konnte mich nicht mehr richtig an bestimmte Situationen erinnern. Ich wusste nicht, ob mir diese Erinnerungen auch genommen worden waren oder ob es schlichtweg einfach zu lange her war.
Ich schlug das Buch auf, das wir gestern bekommen hatten, und überflog das Inhaltsverzeichnis. Bei dem Kapitel Engel blieb ich hängen. Neugierig blätterte ich zur ausgeschriebenen Seite und begann zu lesen.

"Engel sind uralte Wesen, die vor Jahrtausenden einmal die Erde bewohnt hatten. Irgendwann zogen sie sich zurück in den Himmel und erschufen den Menschen, um die Erde zu bevölkern. Die Residenz der Engel im Himmel wurde 'castrum aureum' genannt. Ob sie heute noch dort leben oder ausgestorben sind, weiß niemand, da keiner von ihnen seit der großen Schlacht vor über 900 Jahren je wieder gesehen wurde. Nicht einmal der große Razael, der Anführer der Engel..."
"Razael...", flüsterte ich, da mir der Name so vertraut war und plötzlich hatte ich ein klares Bild vor Augen: Ein großer, breitschultriger Mann mit atemberaubenden weißen Flügeln auf seinem Rücken tauchte vor meinem inneren Auge auf. Er hatte hellbraunes Haar und wasserblaue Augen, zudem ein sehr markantes Gesicht, das von seinem Drei-Tage-Bart abgerundet wurde. Seine Haut war so hell, als hätte er noch nie die Sonne gesehen. Außerdem erinnerte ich mich an seine Kette, die er immer trug: An einer feinen silbernen Kette hing ein blau leuchtender Kristall. An mehr konnte ich mich leider nicht erinnern.
Nachdenklich auf meiner Unterlippe herumkauend stand ich auf und ging zum Fenster. Draußen auf dem Hof sah ich meine Freunde mit ein paar anderen aus unserem Jahrgang zusammensitzen und reden. Ich sah Hayley, als sie über irgendetwas lachte und plötzlich spürte ich eine Leere an meinem Hals, als würde igendetwas fehlen.  Ich fasste mir an den Hals und dachte sofort an die Kette von Razael. Hatte ich etwa auch eine solche Kette? Hatte die jeder Engel? Gedankenverloren blickte ich hoch in den Himmel. Irgendwie war ich mir sicher, dass die Engel noch da waren. Die Schlacht war vor genau 950 Jahren gewesen und ich wusste, dass ich eine Kriegerin in dieser Schlacht gewesen war. An der Seite der Engel. Ich war schließlich eines der alten Wesen und ich hoffte, dass es hier auf der Erde noch andere von meiner Art gab, die mir vielleicht noch ein paar Antworten liefern konnten. Ich wusste nämlich nicht mehr, wie diese Schlacht ausgegangen war und was danach alles geschehen war in den letzten 950 Jahren...
Auf einmal wurde mir ein wenig schwummrig und heiß und kalt zugleich. Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf. Bilder, die ich wohl mal gesehen, mich aber nicht mehr dran erinnern konnte, das erlebt zu haben.

Ein Schwert aus Gold und Silber, das perfekt in meine Hand passte. Eine Heerschar aus bewaffneten Engeln. Ein schwarzer Drache, dessen Schuppen an den Rändern golden schimmerten und dessen goldene Augen mich eindringlich musterten. Und eine Kette. Sie sah aus wie die von Razael, silbern, aber der Kristall leuchtete nicht blau, sondern rot. Instinktiv wusste ich, dass es meine Kette sein musste, doch wo war sie? Bei den Engeln?

Als ich wieder hinunter zu meinen Freunden sah, blickte Hayley mir genau in die Augen und ihre Augen schimmerten weißlich, als würde sie ihre Magie anwenden. Dann stand sie auf und lief ins Gebäude.

Lucifer-verdammtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt