Kapitel 3 - Jin

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Regel Nr. 3: Zu mir oder zu dir?

(auf keinen Fall ins eigene Zuhause, dann kannst du abhauen wann immer du willst und musst niemanden rauswerfen.)


Bei Jin gab es gleich mehrere Faktoren, die mich einerseits anlockten, andererseits auch sehr irritierten. Zunächst war auffällig, wie unglaublich schön dieser Mann war und dieses Mal meinte ich damit nicht diese unterschwellige, raue Schönheit, die sofort verruchte Bilder in meinen Kopf projizierte, sondern eher etwas ganz Klassisches. Im Grunde hätte er mit diesem Gesicht auf dem Hochglanzcover jedes x-beliebigen Finanzmagazins abgebildet sein können. Natürlich stand er in dieser Bar nicht im Anzug, das wäre dann doch zu viel des Guten gewesen, aber selbst in Jeans und Hemd wirkt er kein bisschen leger, noch nicht mal sportiv, sondern eben immer noch so typisch zeitlos, wie es nur Männer wie er schafften. Und dann war da noch das, was er ausstrahlte. Er war auf der Suche, das stand außer Frage, oder sagen wir besser: Er wollte gefunden werden. Er wollte es so unbedingt, dass es beinahe schon verzweifelt wirkte. Ein Attribut, das eher abschreckend wirkte. Auf der anderen Seite waren da wiederum eine gewisse Zurückhaltung und Unsicherheit, die allein bei seinem Äußern völlig fehl am Platz wirkten und nur schwer einzusortieren waren.

Ins Gespräch kamen wir absolut banal über die Vorzüge oder auch Nachteile verschiedener Smartphonehersteller, was immerhin so lange ein harmloses Gespräch war, bis er mich fragte, ob er mir noch einen Drink bestellen dürfe. Auch die Art wie er fragte, wie er mich dabei ansah war sehr zögernd und zurückhaltend. Und allein das hätte mich vielleicht am Ende abgeschreckt, wenn er nicht noch etwas ausgestrahlt hätte, das mich unheimlich anzog. Dabei konnte ich anfangs noch nicht mal sagen, was genau es eigentlich war, aber ich fühlte mich in seiner Gegenwart wohl und das gab den Ausschlag. Er nahm genau einen Drink, nicht mehr, schwenkte dann um auf Ginger Ale, während ich mir noch einen zweiten Bourbon genehmigte und ich beobachtete ihn genau. Seine Nervosität nahm nicht ab, sondern stetig zu, was mich zu der Frage brachte, warum zur Hölle er eigentlich so unglaublich verunsichert war. Und das, obwohl unsere Unterhaltung so leicht und mühelos dahinfloss, als wären wir schon seit Jahren befreundet. Es stellte sich heraus, Jin kam tatsächlich aus dem Finanzsektor, bewegte sich im mittleren Management der zweitgrößten Financial Group, was seine kultiviert-konservative Ausstrahlung durchaus erklärte. Im Gespräch war er immerhin etwas offener, aber es war vor allem das, was zwischen den Zeilen gesagt wurde, das mich am Ende doch einen Vorstoß machen ließ.

„Möchtest du vielleicht irgendwo hingehen, wo es... ruhiger ist?"

Ein Code der so unmissverständlich war, dass es schon fast plump anmutete, aber bei Jin – da war ich mir ziemlich sicher – war das der richtige Weg. Keine verruchten Zweideutigkeiten, keine ausgefeilten, neckischen Angebote. Ich sollte recht behalten.

Ein sanftes Lächeln traf mich. „Ja, gerne." Dann sah er weg, als wäre diese Antwort schon grenzwertig obszön gewesen. So oder so, wir bezahlten, verließen schweigend die Bar und draußen, in der kühlen Nachtluft, im Schutz der Dunkelheit, lachte er plötzlich leise, wie er so neben mir dahinschlenderte. Fast ziellos, weil wir ja gar nicht geklärt hatten, wohin uns dieser Aufbruch führen sollte. Dann sah er mich schmunzelnd an.

„Willst du mit zu mir kommen?"

Okay wow, das hätte ich jetzt doch nicht erwartet und der kurze Moment der Überraschung, der mich zögern ließ, reichte bei Jin wohl schon wieder, um sein Lächeln einstürzen zu lassen.

„Oder..."

„Nein, ist okay", fiel ich ihm rasch ins Wort, bevor ihn seine Verlegenheit noch umbringen würde. „Fahren wir zu dir."

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