Prolog

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„Hast du verstanden?", meine Mutter beugt sich über den Schreibtisch vor, ihre lockigen, schwarzen Haare glänzen ölig im Kerzenschein. Haare, die so schwarz sind wie meine. Nur dass ihre dämonischen Hörner deutlich größer sind und sich elegant an den Seiten einrollen. Meine sind in ihrer jugendlichen Größe von dreiundzwanzig Jahren nicht einmal groß genug um aus meinen kurzen Haaren hervorzuluken.  Ihr Blick ist auf die Papiere vor sich gerichtet, die die Tischplatte verdecken. "Niemand darf es zurückverfolgen können. Es soll wie ein Unfall aussehen."

"Nicht einmal ein bisschen?", ich ziehe ein schmollendes Gesicht. Weniger weil ich Spaß an meiner Arbeit habe, eher um meine Mutter ein wenig zu reizen. Ihr eine kleine Gefühlsregung aus dem steinernen Herz kitzeln zu können. Wenigstens jetzt hätte sie einmal hochgucken können. Wenigstens ein bisschen Interesse zeigen können. Aber sie hebt nicht einmal ansatzweise den Kopf. Ein Seufzer entweicht ihren kirschroten Lippen. „Ich dachte, ich habe mich klar ausgedrückt, Ian."

Da! Eine Sekunde lang flackert ihre Aufmerksamkeit zu mir. So schnell senkt sich ihr Blick wieder, dass ich mich kurz frage, ob ich es mir nur eingebildet habe. War er das gewesen? Der Funke an Interesse? Und wenn er das war, lag das Interesse an mir oder an meiner Arbeit?

"Ja, Mutter", wie immer lenke ich ein. "Gut", sie greift nach dem Füller und widmet sich wieder ganz ihren Dokumenten. Kurz werde ich in eine andere Zeit katapultiert.

Ich bin fünf Jahre alt. Ich stehe an der Klippe, unter mir die Felsklippen und dahinter das unendlich weite, blaue Meer. Adrenalin rauscht durch meinen Körper, als ich mich anspanne und... „Ian!", schreit mein Kindermädchen von hinten. „Komm sofort da weg! Das ist viel zu gefährlich!" Sie wird mich nie rechtzeitig erreichen. Dafür ist sie viel zu langsam. Ich verdrehe die Augen. „Sonst würde es auch nur halb so viel Spaß machen!", rufe ich zurück und springe...

Der Druck auf meinen Ohren wächst, während ich die Felswand herabstürze, die Flügel eng an den Körper gelegt. Der steinerne Boden kommt immer näher. Wenn ich nicht rechtzeitig abdrehe, werde ich auf den Felsen zerschellen wie Eierschalen und keine Heilkräfte der Welt wären in der Lage, meinen Körper wieder aus seinen Einzelteilen zusammenzusetzen. Meine Kontrahenten habe ich längst hinter mir gelassen. Sie alle haben zu große Angst, ich habe Angst, aber reicht es auch aus, um meine Mutter zu beeindrucken?

Ich stehe im großen Arbeitszimmer meiner Mutter, mein Kindermädchen steht hinter mir und redet auf sie ein, während sie weiterhin ungerührt mit ihrer Feder das Blatt vollkritzelt. „Er hätte sterben können", endet sie. „Ist er aber nicht", meint meine Mutter nur, ohne aufzublicken und bedeutet uns, den Raum zu verlassen.

Wie damals, wie all die hundert Male danach, drehe ich mich auch heute an der Tür noch einmal um, aber sie ist zu sehr in ihre Arbeit vertieft, um mich zu bemerken.


Während ich auf dem Dach hocke und die Straße vor mir im Blick habe, philosophiere ich etwas vor mich hin, um die Langeweile zu vertreiben, die sich in meine Knochen schleicht. Es ist erst kurz nach zehn, eigentlich bin ich schon viel zu früh hier. Keiner verlässt die Gala meiner Mutter vor elf. Das wäre schlicht unhöflich. Der Lärm aus dem Garten, das ausgelassene Lachen der Menschen drängt sogar bis zu mir. In einer so milden Herbstnacht wie dieser genießen alle noch einmal die letzte Gelegenheit, draußen ihren Spaß zu haben, bevor der Winter sie in ihre kühlen Häuser zurückdrängt, wo sie für ein weiteres halbes Jahr eingesperrt bleiben.

Gutes Thema, eingesperrt. So fühle ich mich auch viel zu häufig. Eingesperrt in ein Schloss, immer nur das als Aufgabe, was meine Mutter gerade von mir verlangt. Das ist doch kein Leben für einen Dämonen wie mich! Frustriert kratze ich mit der Spitze meines Dolches etwas Dreck aus meinen Schuhsohlen. Klar, ich könnte ausbrechen, selbstständig werden. Aber wer würde dann die Drecksarbeit für meine Mutter erledigen? Niemand aus dem Ekklesium steht gerne ohne rechte Hand dar. Besonders nicht Malva Mandory. Was mache ich mir einen vor? Sie würde mich nicht gehen lassen, sollte ich es versuchen. Diese Beleidigung würde sie nicht dulden. Vor allem nicht von ihrem tollen, kostbaren Sohn, mit dem sie so gut angeben kann. Die Ironie lässt mich laut und verzweifelt auflachen. Wie verstört muss man sein, um auf einen Mörder, einen Halsabschneider und Betrüger stolz zu sein und sich mit seinen Taten zu brüsten? Aber was soll ich auch sonst machen? Es ist das Einzige, in dem ich wirklich gut bin. Für Diplomatie und einen Sitz im Ekklesium ist es für mich noch viel zu früh. "Lern erstmal mit deinen Aggressionen fertigzuwerden", hatte meine Mutter mir mal in einem Streit an den Kopf geworfen. Gute Idee! Warum sie dann nicht gleich an dem nächsten Opfer ihrer langen Liste abarbeiten? Letztendlich bin ich nicht mehr als ihr bissiges, gehorsames Schoßhündchen, mit dem das Ekklesium -wenn auch sehr effektiv- seine Feinde klein hält. Ich bin der perfekte Mörder. Schnell. Mit übermenschlichen Kräften. Unbesiegbar. Ich könnte schreien.

Ich  folge dem Mann durch die Straßen. Noch immer trägt er den maßgeschneiderten Anzug von der Gala meiner Mutter, so als hätte er persönlich geplant, heute Nacht umgebracht zu werden. Das also sollte von Anfang an aus mir werden? Ein Killer im Auftrag ihrer Majestät, meiner Mutter? Ein Schatten der Nacht? Seine Familie wird nicht wissen, dass er ermordet wurde, dafür habe ich zu viel Erfahrung. Es wird wie ein Unfall aussehen. Ob seine kleine Tochter ihn beweinen wird? Das kränkliche, dünne Kind, das sich kaum auf den Beinen halten konnte und in ihrem schicken weißen Kleid blasser wirkte als die Tischdecke? Mit einem kräftigen Flügelschlag katapultiere ich mich hinter ihn in die Gasse...

Es war ein schneller Tod. Ich säubere den kleinen Dolch vorsichtig mit dem mitgebrachten Tuch. Es ist ein bösartiges kleines Ding. Niemand wird die Einstichwunde noch feststellen können. Ich habe die Stelle danach mit einem Stein so bearbeitet, dass die Wund vom Messer nicht mehr erkennbar ist. Jetzt liegt der gute Herr auf der Straße. Für jeden anderen hat es den Anschein, als hätte er einen Herzinfakt bekommen und wäre unglücklich mit seinem Kopf auf dem Bordstein aufgekommen. Niemand wird es für einen Mord halten. Ohne jegliche Emotionen drehe ich mich um, spanne meine Flügel an und schieße hinauf in den wolkenverhangenen Nachthimmel. Ein Tag wie der andere. Arbeit.

Meine Mutter wird zufrieden sein.

Und das ist das Wichtigste.

Fight or DieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt