Versprochen

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In zwei Monaten geht es los. In zwei Monaten geht es endlich los. Ich lasse den Blick über das Anwesen schweifen, während ich im Rollstuhl weiter auf die Terrasse fahre. Wie schnell die letzten Monate vergangen sind. Wie viel mehr ich jetzt weiß.
Wie schnell man abbauen kann. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bestehe nur noch aus Haut und Knochen.

Mein Großvater ist ein kein guter Mann, denke ich, während ich den Säulengang aus Marmor mit meinem Rollstuhl entlangfahre, auch wenn das Daubeney Anwesen beeindruckend ist. Eine leichte Briese weht und ich habe den Schal eng um meinen Kopf geschlungen. Ich muss aufpassen, dass ich nicht krank werde. Aber die Aussicht über die Stadt, wie sie ruhig in den ersten Stunden des Tages vor mir liegt, ist es wert.

Unten klappern die Türen, als die hochrangigen Firmenmitarbeiter aus und eingehen. Mal wieder eine Firmensitzung mit ausladenen Frühstück. Es wird das erste sein, bei dem meine Mutter am den großen Sessel am Kopf des Tisches Platz nehmen wird und nicht Tyson. Er hat beschlossen, dass es an der Zeit ist, mit 73 seine Stellung als Firmchef weiterzugeben an meine Mutter und meinen Onkel Richard. Stattdessen wird Großvater in beratender Position anwesend sein.
Ich stelle mir vor, wie sie dort sitzen werden und in ihren viel zu engen Kleidern mit gespitzten Mund Essen auf ihre Gabeln piken werden.

„Madam!", eine fröhliche Stimme dröhnt durch den Säulengang und ein Mann mit einem braunen Schnurrbart, Anzug und Spazierstock kommt auf mich zu. Ich muss lachen. Nur einer nennt mich so.

„Richard!", rufe ich fröhlich.

Er hebt mich hoch und wirbelt mich einmal im Kreis, sodass mir schwarz vor Augen wird. „Ich dachte, du wärst schon im Saal." Vorsichtig setzt er mich wieder in den Rollstuhl. „Du bist spät dran."

„Soll der alte Mann doch meckern", meint Richard nur und zwinkert mir zu. „Ich hab nie darum gebeten."

„Wirst du dich je ändern?", frage ich lächelnd.

„Niemals", entgegnet er. „Aber du, mein Fräulein, wirst mit jedem Tag schöner! Nur schlafen könntest du etwas mehr." Ich werde rot bei dem Kompliment, obwohl ich weiß, dass es nicht stimmt. Ich werde mit jedem Tag dünner, stehe mit jedem Tag tiefer in meinem Grab. Vor einer Woche musste ich mir nochmal die Haare kurz schneiden, weil sie so spröde waren und ausfielen. Der zweite Schub. Der nächste wird der letzte sein.

Jetzt sind sie auf wenige Zentimeter runtergeschoren. Ich linse durch meine Wimpern zu ihm hoch. Was er sagen würde, wenn er wüsste, was ich seit fast einem Jahr jeden Tag und jede Nacht mache? Woher die dunklen Augenringe kamen? Würde er das immer noch sagen, wenn er wüsste, dass ich Bücher über unmögliche Heilungen, über verdorbene Magie wälzte?

„Wie geht es Harry?", frage ich, um abzulenken. Auf meinen letzten Brief habe ich nie eine Antwort bekommen.

„Ihm geht's prächtig", meint mein Onkel zu meiner Überraschung. „Gestern ist noch ein Brief angekommen. Ich hab zwar nur die Hälfte verstanden, aber ich glaube, es ging darum, dass eine Alge gefunden wurde, mit der du unter Wasser atmen kannst." Ich ringe mir ein Grinsen ab. Auch wenn ich mir das gut vorstellen konnte, konnte ich den Hundertachziggradwechsel in Harrys Interesse nicht verstehen. Seit Monaten schwärmt er über Algen und ich hoffe, dass das seine Methode war, mir zu zeigen, dass er sich weniger gefährlichen Themen widmet.

Aber meine Sorge um ihn überlagert das wie ein dunkler Schatten. Er war derjenige gewesen, der mich die letzten Jahre, als Richard noch zu meinem Babysitter verdonnert worden war, jeden Tag durch das Anwesen begleitet hatte.

Aber selbst ihm vertraue ich nicht genug, um ihm von der Blutmagie zu erzählen.

„Schreib ihm, dass ich ihn vermisse", bemerke  ich und meine es auch so. Seit Harry weg ist, bin ich ganz alleine in diesem riesigen Haus. Meine Mutter kann es kaum noch ertragen mich anzublicken und würde mich am liebsten ans Bett ketten. Und mein Großvater misstraut mir noch immer.

Fight or DieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt