Zu meinem Leidwesen lässt Harrys nächster Brief lange auf sich warten und so sitze ich knapp zwei Wochen später mit meiner Familie beim Dinner, als meine Mutter mir den Brief über den ausladenden Esstisch zuschiebt.
"Und du bist dir sicher, dass du in drei Monaten auf die Wissenschaftsmesse möchtest?", fragt mich meine Mutter zum hundertachtzigsten Mal.
Ich verdrehe die Augen.
"Und wenn ich im Rollstuhl dahin muss, ist es so. Ich werde hingehen."Wütend und gleichzeitig Hilfe suchend wendet sich meine Mutter an meinen Großvater.
"Sag doch was, Papa!"
Tja, da kann sie sich die Zähne dran ausbeißen. Tyson hat langsam auch verstanden, dass er nicht herausfinden wird, wie ich Malvas Interesse geweckt habe und weis, der einzige Weg, meinem großen Geheimnis näher zu kommen, ist mich in Ruhe zu lassen."Sie ist neunzehn, Betty. Du kannst sie nicht für immer von der Welt fern halten." So als würde sich ein Großteil der Welt nicht von mir fernhalten.
Als hätte ich nicht bemerkt, dass Otto immer in seinem Stuhl versinkt, wenn ich den Raum betrete. Oder dass Mama, seit meine Leiden offensichtlicher werden, öfters dafür sorgt, dass Thea und ich uns möglichst wenig sehen.
Manchmal glaube ich, dass meine Familie ganz froh ist, dass ich tagsüber verschwinde und den Großteil meiner Freizeit in meinem Zimmer verbringe.Gerade schreit Ottos Energiespur nur so vor Unbehagen.
Geht weg! Das ist die Message, die ich lesen kann. Eine der neuen Fähigkeiten, die ich in dem letzten Monat entwickelt und verbessert habe.
Obwohl es am besten immer noch mit Lin funktioniert. Inzwischen kann ich ihre Energiespur wahrnehmen und interpretieren, selbst wenn sie mehrere Häuser entfernt ist."Genau", mische ich mich ein. "Ich bin schon volljährig. Ich werde gehen. Und wer weis, vielleicht sind die Daubeneys bald jedes Jahr dort eingeladen. Stell dir nur vor, was für eine Chance das auch für Thea wäre!"
Unter dem Tisch tritt mich Thea leicht vor das Schienbein und blickt mich warnend an."Thea ist dreizehn", meint Otto. Es ist das erste Mal, dass er sich in eine Diskussion der Familie einmischt. Ich hasse es. "Nutz sie nicht als Ausrede, um deine eigenen Pläne durchzuziehen."
"Bietest du dich gerade freiwillig an, den Tag stattdessen mit mir zu verbringen?", ich grinse ihn breit an. Dieser Mann hat mehr Angst vor mir, als ich vor ihm. Es wird Zeit, ihn daran zu erinnern. "Hinterher sterben dir noch alle Gliedmaßen ab, wenn die Stille Seuche auf dich überspringt und tote Zellen purzeln dir aus deinem Mund."
"Flora!", poltert meine Mutter und schlägt auf den Tisch. Von Thea kommt ein unterdrücktes Glucksen. Zu sehen, wie sie sich das Lachen verkneift, reicht, um mich wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen.
"Genug mit dem Geplänkel", meint mein Großvater und beendet jegliche Diskussion. Themenwechsel.
"Thea, bist du bereit für morgen?"
Ach natürlich, wie hatte ich das vergessen können? Thea hat morgen ihre praktische Prüfung in Elementarmagie.Plötzlich guckt sie nicht mehr ganz so glücklich. "An sich ist das alles nicht schwer, nur wenn Aufgaben mit Luft drangekommen, schaffe ich sie vielleicht nicht." Sie seufzt. "Alles andere kann ich mir vorstellen, ich weiß wie es aussieht. Aber Luft? Die sieht man nicht!"
Jetzt muss ich grinsen. Meine kleine Schwester und Probleme in der Schule? Das ist selten und Thea ist viel zu süß, wenn sie schmollt.
Ich greife über den Tisch und ziehe eine brennende Kerze aus der Mitte zwischen uns.
"Puste sie aus."Ich sehe, wie die Energiespur der Flamme flackert und schwächer wird und schließlich erlischt, während Thea ihr unbewusst die Energie entzieht.
"Nein", ich schüttel den Kopf und benutze eine zweite Kerze aus der Mitte, um die Kerze wieder anzuzünden. "Du sollst sie nicht löschen, du sollst sie auspusten, als würdest du Kerzen auf deinem Geburtstagskuchen auspusten."Konzentriert starrt Thea auf die Kerze und alle anderen mit ihr. Ich kann sehen, wie ihre Energiespur um sich greift, aber es ist unkoordiniert und nicht gerichtet.
Schließlich lässt sie geschlagen die Schultern sinken. "Es funktioniert nicht. Ich kann es nicht. Wie soll ich etwas bewegen, was nicht da ist?"
Tyson grummelt leise vor sich hin und beginnt ein Gespräch mit Otto und meiner Mutter.Gut. Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Und wir sind die Aufmerksamkeit der anderen los.
"Ok", ich blicke Thea an. "Aber Luft ist nicht Nichts. Es besteht aus ganz kleinen Partikeln. So klein, dass du sie nicht sehen kannst und weit voneinander entfernt. Darum kannst du sie auch nicht greifen. Probier stattdessen, ein Netz auszuwerfen. Als würdest du Fische fangen. Und dann machst du die Maschen von diesem Netz ganz, ganz klein und ziehst es mit all seinem Inhalt zur Kerze. Verstanden?"Thea nickt, während der Rest meiner Familie uns glücklicherweise keine Aufmerksamkeit schenkt. Einzig mein Großvater schielt ab und zu zu uns herüber. Oder bilde ich mir das nur ein?
"Probier es nochmal", fordere ich meine Schwester auf.
Wieder konzentriert sie sich. Diesmal kann ich das Netzt sehen, dass sie auswirft. Es ist noch unausgereift, hat Löcher und die Maschen sind noch viel zu groß. Aber als sie es zur Kerze zieht, flackert diese für einen kurzen Augenblick.Ihre Augen werden groß und ihr Blick wandert ungläubig zu mir. "Hast du das gesehen?", fragt sie aufgeregt. Ich nicke lächelnd.
"Jetzt mach die Maschen nochmal kleiner und versuch es nochmal. Und keine Löcher!"
Wieder sehe ich wie sie die Energie in Form eines Netzes auswirft."Kleinere Maschen", merke ich noch einmal an, als ich bemerke, dass sie immer noch zu groß sind. "Langsam. Konzentriere dich erst auf das Netz, bevor du ziehst. Noch kleiner."
Thea grummelt leise etwas Unverständliches, aber die Maschen werden kleiner. Jetzt sind sie kaum noch zu sehen.
Dann zieht sie.Mit einem Schlag erlischt die Flamme und Thea entweicht ein Freudenschrei.
Ein wenig ungläubig starrt der Rest der Familie, plötzlich aus ihrem Gespräch gerissen, auf den Rauch, der sich über dem Kerzendocht kräuselt.
"Sehr gut, Thea", meine Mutter streichelt meiner Schwester lächelnd über die Haare.Und noch während alle meine Schwester beglückwünschen schleiche ich mich, von allen unbeachtet, nach oben in mein Zimmer.
Dann bin ich endlich allein.
Nur ich und mein Brief.Hey Flo,
Hier ist dein Lieblingscousin. Entschuldige die späte Antwort, aber die letzten Wochen waren etwas turbulent.
Inzwischen kann ich dir sicher sagen, dass es keine Bakterien sind, die die Krankheit verursachen. Auch die weiteren Experimente laufen gut. Es steht inzwischen fest, es muss einen externen Auslöser geben. Ich glaube, ich bin meinem Ziel ein ganzes Stück näher.
Erinnerst du dich noch an unser vorletztes Gespräch? Du meintest, du bist besser geworden. Sieht so aus, als müsste ich jetzt auch lernen.
Aber es gibt auch gute Nachrichten!
Und weist du noch den wunderschönen Abend an dem Geburtstag, den wir zusammen am See verbracht haben? An die Überraschung, die du für mich vorbereitet hattest? Ich glaube, wir könnten sie dieses Mal toppen!!!Wie ich oben schon gesagt habe, brauchst du dir um mir keine Sorgen machen. Goudong ist noch immer toll und ich komme ein wenig mit meinen Studien voran. Auch mit meiner Arbeitsgruppe verstehe ich mich gut.
Ich war auch letztens auf einer Diskussion von den führenden Wissenschaftlern hier in Goudong. Es waren sogar Mitglieder des Adels aus Lienam da. Kannst du dir das vorstellen? Die ganzen feinen Lords und Ladys, die dem Ekklesium nahestehen. Und einige Mitglieder des Ekklesiums selbst! Sie haben mich ein bisschen an dich erinnert. Den einen Tag in der Bibliothek.Natürlich hoffe ich auch, dass es dir weiterhin gut geht.
Schreib mir baldmöglichst, wie es dir geht.Pass auf dich auf!
Harry
Als meine Augen über die letzte Zeile fliegen, klopft mein Herz so schnell wie nie zuvor. Nicht aus Freude oder etwas Ähnlichen.
Nein, ich habe Angst.So kryptisch dieser Brief auch gehalten war, war er vor allem Eines.
Eine Warnung.
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Fight or Die
Fantasi"Lin sagt immer, für Verwandtschaft kann man nichts. Ich hoffe, sie hat Recht. Andernfalls müsste ich in meinem vorherigen Leben ein böses Genie gewesen sein, mindestens ein gammliger Taschendieb. Was jetzt auch nicht mehr von Bedeutung ist. Dafür...