Hey Flo...

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Sosehr ich meine Familie auch verabscheue, nachdem Shua mich praktisch durch die gesamte Eingangshalle gezerrt hat, lassen sie alle nicht lange auf sich warten. Währenddessen starrt Shua unverhohlen die Familienportraits an, die an der Wand hängen.
"Grüne Augen, hart wie Stahl, ein Daubeney ist meist genial", flüstert er das Familienmitto noch einmal vor sich hin. Ich verdrehe die Augen. Genau DAS ist der Grund, warum ich nie, nie, nie jemanden mit hierhin bringen wollte. Nicht dass die Auswahl in den letzten Jahren groß gewesen ist, aber trotzdem.

Schnelle Schritte auf der Treppe warnen mich vor Theas Ankunft. "Flo! Du bist wieder da!" Wie ein kleiner Wirbelwind kommt sie auf mich zugerast. Shua stellt sich ihr gerade noch rechtzeitig in den Weg, bevor sie mich umarmen kann und ich unter dem Schmerz zusammenbreche.
"Langsam", lacht er. "Deine Schwester hatte einen Fahrradunfall und braucht ein bisschen Rücksicht." Mit besorgtem Gesichtsausdruck mustert mich Thea und scheint erst jetzt die genähte Wunde an meiner Stirn zu bemerken. Tränen sammeln sich in ihren Augen und laufen stumm über ihre Wangen, bevor sie mir vorsichtig über die Hand streicht.

Tyson und meine Mutter kommen beinahe gleichzeitig aus unterschiedlichen Flügeln in die Halle. Während mein Großvater mich mustert, als würde ich für die nächsten zwei Monate Hausarrest bekommen, streift der Blick meiner Mutter erst mich und, als sie sich versichert hat, dass mir nichts fehlt, nimmt dann Shua unter die Lupe. Kurz verziehen sich ihre Mundwinkel missbilligend.
"Was ist passiert?", fragt sie.
Bevor Shua für mich antworten kann, mache ich meinen Mund auf. "Ich hatte einen Fahrradunfall. Ich wollte morgens schon früh in die Stadt, aber es war wohl keine so gute Idee. Glücklicherweise hat mich Joshua gefunden, zusammengeflickt und hierher begleitet."
Während meiner kurzen Erklärung hat sich Tysons Gesichtsausdruck mit jedem weiteren Wort mehr verfinstert. Na toll.

"Danke, mein Junge", mein Großvater geht tatsächlich auf Joshua zu und schüttelt ihm die Hand. Ich blinzel. Hat da gerade Geld den Besitzer gewechselt? "Der Rest trifft sich um fünf zum Dinner. Und Flora", er starrt mich förmlich runter. "Bis dahin bleibst du auf deinem Zimmer. Ach, und zeigt dem anderen bitte den Weg nach draußen."
Mit den Worten dreht sich Tyson um und verschwindet wieder in Richtung seines Arbeitszimmers. Meine Mutter seufzt, bevor sie sich Joshua zuwendet, die missbilligende Falte wieder in die Stirn gegraben. Aber Shua beachtet sie gar nicht. Stattdessen ist er vor Thea auf die Knie gegangen. "Du musst in den nächsten Tagen für mich auf Flo aufpassen. Schaffst du das?", fragt er und nimmt ihre Hand sanft in seine. Thea kichert verlegen, dann nickt sie.
"Den Weg zurück finde ich auch alleine", er dreht sich um und schlendert auf das Eingangstor zu. "Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen, Flora. Auf Wiedersehen."
Als hätten wir uns zuvor noch nie gesehen. Und als wäre das hier der Abschied.
Ich antworte nicht. Ich ignoriere meine Mutter, die gerade zu einer Standpauke ansetzen möchte und verschwinde schnellstmöglich auf mein Zimmer.

Ich nutze den nächsten Tag dazu, mir einen Kräutergarten anzulegen. Am Sonntag hat leider auch die Uni geschlossen.
Einen frischen Pfefferminztee vor mir versuche ich zum vierten Mal erfolglos, die Energie aus der Luft zu ziehen. Ich sehe sie, aber ich kann sie nicht greifen.

So ein Mist.
Also nochmal. Nochmal. Und nochmal.

Seufzend lasse ich den Kopf sinken und greife vom Bett aus zu einem der dicken Wälzer. Noch in der Bewegung durchfährt mich ein scharfer Schmerz, als mein Shirt über die Bandagen reibt. Leise fluchend ziehe ich mir über den Kopf und werfe es neben dem Bett auf den Boden. Dann vergrabe ich meine Nase in einem der Naturwissenschaftsbücher, das ich aus der Bibliothek geklaut habe.

Schließlich bin ich so in das Kapitel über Zellen vertieft, dass ich nicht bemerke, wie meine Schwester in mein Zimmer geschlichen kommt, bis sie direkt vor meinem Bett steht und mich aus großen Augen anblickt.

Oh Shit. Die Bandagen. Davon wusste noch niemand etwas.
"Alles gut", ich lächel sie an. "Es ist nichts Schlimmes."
"Es sieht aber schlimm aus", entgegnet sie. "Kommt das auch vom Fahrradunfall?" Ich nicke.
"Ich bin wirklich unglücklich gefallen."
"Kann ich dir helfen?", fragt Thea. Lächelnd zerstrubbel ich ihre Haare. Meine süße, naive Schwester.

Obwohl ... ich ziehe die Creme heraus, die mir Linnéa mitgegeben hat.
"Aber du musst ganz tapfer sein, kannst du mir das versprechen?" Thea nickt, während ich langsam die Bandagen abwickle. Es brennt wie Hölle. Thea bekommt noch größere Augen, als sie meinen wunden Rücken sieht. Aber obwohl ihre Unterlippe zittert, streckt sie die Hand nach der Salbe aus.
"Ganz vorsichtig auftragen", ich lege ihr die Dose in die kleinen Hände.
"Ist gut", sie atmet einmal tief ein. "Ich schaffe das."

Bei ihrer ersten Berührung muss ich einen Schrei unterdrücken, bevor die Creme die Wunde kühlt und mein Rücken angenehm taub wird. Je mehr sie auf meinen Rücken verstreicht, desto mehr kann ich mich entspannen.

"Wie findest du Otto?", fragt mich Thea und überrumpelt mich total mit der Frage.
Stimmt. Das hatte ich erfolgreich komplett verdrängt.
Otto Seidert - der neue Freund meiner Mutter.

"Er ist nicht Papa", antworte ich ausweichend. "Aber er wirkt ganz nett." Kann ich ihr sagen, dass ich es abstoßend fand, wie er unseren Großvater quasi angehimmelt hat?
Kein Wunder, dass dieser erfreut war. Ein weiteres Werkzeug in seinen Händen. Ätzend.
Und hoch angesehen ist er auch noch. Als Arzt ist er bekannt, beliebt und gut vernetzt. Es wird das Geschäft noch weiter antreiben.

Warum meine Mutter sich wohl für ihn entschieden hat?
Auch wenn man ihm lassen muss, dass er den gesamten Abend seine Augen nicht von ihr lösen konnte. Was allerdings nicht unbedingt ein Kompliment ist und für uns Kinder ziemlich schnell unangenehm werden könnte.

"Es ist komisch, dass da auf einmal noch wer ist", meint Thea.
Ich nehme sie in den Arm. "Das wird aber nichts ändern. Mama wird dich immer noch genauso lieben wie vorher", versichere ich ihr. Einen Moment herrscht Stille im Raum.
"Dich aber auch", flüstert Thea dann.

Ja klar.
Wahrscheinlich hat sie sogar Recht. Aber sie übersieht dabei, dass meine Mutter und mich kaum noch Gefühle aneinander binden.

"Ach stimmt", Thea löst sich aus meiner Umarmung und greift in ihre Hosentasche. "Deshalb bin ich eigentlich da."
Sie reicht mir einen Brief. Obwohl er zerknittert ist, erkenne ich die Handschrift sofort.

Harry.

Mein Herz fängt vor Freude an schneller zu klopfen.
"Du bist die beste!" Thea lächelt mich breit an. "In einer halben Stunde ist das Essen fertig." Damit hüpft sie aus dem Zimmer.

Meine Finger zittern, als ich den Brief öffne.

Hey Flo,

Ich hoffe, es geht dir gut.
Mir geht es zumindest gut. Die Universität hier ist faszinierend, genauso wie die Stadt selbst und ganz anders als zu Hause. Du würdest vor Staunen den Mund nicht mehr zubekommen.
Meine Experimente laufen ... sie könnten besser laufen, aber eine These ausschließen zu können, ist auch ein Ergebnis. Auch wenn ich gehofft hatte, der Ursache der Stillen Seuche näher auf den Grund zu gehen, glaube ich nicht, dass ich heute näher an der Lösung bin als vor zwei Monaten als ich weggegangen bin. Aber ich halte dich auf dem Laufenden.

Liebe Grüße und bleib am Leben,

Dein Cousin Harry

Bleib am Leben, wenn Harry wüsste wie sehr ich diese Fähigkeit gerade gebrauchen könnte.
Aber da verlasse ich mich lieber auf mich selbst.

Angefangen damit, dass ich morgen die Uni besuchen werde.

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