7. Kapitel: Hug All Your Friends

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KAPITEL SIEBEN


"Life's too short
To worry about things that we got wrong
So hug all your friends and let them know
You're not letting go"(cavetown – hug all ur friends)



Sommer 2020

Der Morgen war frisch genug, dass der Himmel noch schwach rosa gezeichnet war, und es war jetzt schon zu warm. Tim bereute seine verschlafene Entscheidung, Jeans zu tragen. Stegi trug Shorts (die objektiv intelligentere Wahl), und er schien nur darauf zu warten, dass Tim sich wegen der Hitze beschwerte; ein Lachen schien kurz davor, sich auf seine Lippen zu bahnen.

Tim hielt die Klappe und litt schweigend.

Ihr Ziel war eine Bäckerei, die entschieden zu lange von Tims Wohnung entfernt war. Zwanzig Minuten Fußweg war okay, wenn es um die meisten Dinge ging. „Morgens verschlafen frühstücken wollen" zählte nicht zu diesen Dingen, und dementsprechend griff man in der WG selbst für besondere Frühstücksanlässe auf Aufbackbrötchen zurück. Oskar aufzuheitern zählte als doppelt besonderer Anlass.

„Ich weiß ja nicht, ob Frühstück wirklich etwas an Oskars Zustand ändert", gab Stegi zu bedenken. Er lief mit den Händen in den Hosentaschen vergraben und kickte auf dem Marsch einen Kiesel vor sich her.

Tim zuckte mit den Schultern. „Besser es geht dir scheiße mit Croissants als ohne."

„Da is' was dran."

„Und du kannst dir 'nen Kaffee kaufen, wenn wir da sind."

Stegi nickte, als hätte Tim etwas sehr weises gesagt. Er hatte bereits in der Wohnung einen getrunken (jetzt, wo die Semesterferien lange vorbei waren, war Kaffee mit Koffein wieder erlaubt), aber für seine Verhältnisse war das offensichtlich nicht genug. Ein bisher unterdrücktes Gähnen bahnte sich den Weg über seine Lippen, und es schien sein Kiesel-Fußball aus dem Takt zu bringen: Der Stein landete am Rand des Bürgersteigs, und Stegi musste einen Schritt zur Seite machen, um ihn weiterzukicken. Die Allee war menschenleer, er machte sich nicht die Mühe, nur für Tim seinen Mund zu bedecken.

„Es scheint ein dringender Fall zu sein", sagte Tim.

„Und darum sollten wir uns beeilen", erklärte Stegi. Er kickte den Kiesel ein ganzes Stück weiter, wie durch ein Wunder traf er keine geparkten Autos, sondern flog über eine Motorhaube hinweg direkt auf die Straße. Stegi verzog missmutig das Gesicht. „Ach, komm schon."

Tim lachte. Stegi zeigte ihm den Mittelfinger.

Als sie an dem Teil der Straße ankamen, quetschte Stegi sich zwischen Autos hindurch zu seinem Kiesel. „Du wirst überfahren!", rief Tim ihm zu.

„Von wem?", kam zurück. Stegi breitete die Arme aus. Die Straße war wie ausgestorben, der Berufsverkehr hatte noch nicht begonnen, und sie befanden sich in einer 30-er Zone, durch die außer Anwohnern sowieso nie jemand fuhr.

Stegi hatte einen Punkt. Sie würden ein ankommendes Auto schon rechtzeitig hören. (Oder sterben, aber das Risiko war klein genug.) Tim folgte Stegi auf die Straße und trat den Kiesel in einem Winkel, der ihm im hohen Bogen einige Meter weit fliegen ließ.

„Hey!", beschwerte Stegi sich und boxte Tim in die Seite.

„Was? Fußball spielt man auch nicht allein."

„Sondern gegeneinander." Stegi grinste und deutete auf den Kiesel. Inzwischen waren sie ihm nahe genug gekommen, dass er klar sichtbar war. „Wer mit dem Ding am Bäcker ankommt, hat gewonnen. Los!" Und damit war er losgesprintet, ohne Tim auch nur eine Sekunde zu geben, sich vorzubereiten.

Warte!", rief Tim ihm hinterher, aber ohne Reaktion. Er hatte keine Wahl: Er rannte ihm trotz der sengenden Hitze hinterher. Ein kleines Stückchen größer, bei Weitem bessere Form (Tim spielte seit seinem Umzug kein Basketball mehr, aber er erinnerte sich an das Rennen langer Aufwärmrunden) – Es dauerte nicht lange, bis er ihn eingeholt hatte.

Stegi kickte den Kiesel schräg und sprintete ihm hinterher, so schnell, dass Tim es nicht schaffte, ihn an sich zu reißen.

Tims Kampfgeist war geweckt.

Es war ein knappes Rennen: Tim war schneller und ausdauernder, Stegi gewiefter und passender angezogen. Einmal mussten sie auf den Bürgersteig ausweichen, um nicht überfahren zu werden, und sie stolperten beinahe übereinander beim Versuch, wieder zurück auf die Straße zu kommen. Dreimal verursachten sie fast einen Lackschaden an einem Auto, und es war pures Glück, dass der Kiesel keinen Steinschlag verursachte oder unter einem Wagen für immer verloren ging.

Tim hatte ewig keinen Sport mehr gemacht, nicht einmal das Fahrradfahren zum Campus blieb ihm noch als Training, und er spürte es in jedem seiner Muskeln.

Stegi atmete bereits schwer, und sie beide hatten ihr Tempo bedeutend zu einem schnellen Spaziergang gedrosselt, als am Horizont die Kreuzung auftauchte: Ein Dönerladen, ein Kiosk, der Bäcker. Tim warf Stegi einen Blick zu, der so etwas sagen sollte wie: Bereit?

Stegi richtete sich gerader auf, grinste, und rannte, den Kiesel vor sich her kickend. Tim atmete tief ein, die Augen auf den Stein gerichtet, und folgte ihm.

Seine Beine brannten, er war sich sicher, dass er verschwitzt war, und seine Schuhe waren nicht zum Rennen gemacht, aber das alles verschwand beim Hinabsprinten der Straße, beim Blick auf Stegi, beim gezielten Schießen des Kiesels auf den letzten Metern. Tim rannte mit dem Kiesel vor sich her, der Bäcker nur noch einige Sekunden entfernt. Er konnte es nicht leisten, einen Blick zurückzuwerfen, herauszufinden, wo Stegi sich aufhielt.

Fünf Schritte. Vier. Drei.

Von rechts hinten stolperte ein unfassbar schneller Stegi in ihn hinein, warf ihn aus der Bahn, und versuchte, nach dem Stein zu treten. Tim konterte mit einem Versuch, selbst zu schießen, aber blockierte dabei bloß Stegi. Dessen Hände griffen mit einem Fluch nach Tims T-Shirt, und fast fiel er gemeinsam mit Stegi zu Boden. Er schaffte es gerade noch, sich zu fangen, und griff mit einer Hand nach Stegis Schulter, um ihn ebenfalls zu stabilisieren.

Für einige Sekunden standen sie still, dann ließen sie sich los und warfen einen Blick zurück. Sie standen vor der Bäckerei, aber der Kiesel war einige Schritte zurückgeblieben, verloren bei ihrem Gerangel.

„Fuck", sagte Stegi, Hände in die Hüften gestemmt, „Seitenstechen."

Tim versuchte, nach Luft zu schnappen. Auch sein Körper brannte.

„Aber", fuhr Stegi außer Atem fort, „Ich habe gewonnen. Ich hab' dir den Stein abgenommen."

„Ich hatte ihn zuletzt!", protestierte Tim. „Wenn überhaupt, hab ich gewonnen."

„Aber du hast ihn nicht über die Ziellinie..."

„Irrelevant."

„So funktionieren die Regeln nicht!"

„Rematch auf dem Rückweg?"

„Fick dich", sagte Stegi und krümmte sich vorne über. „Nie wieder renne ich so viel."

Tim lachte und Stegi stimmte ein, was sein Seitenstechen nur zu verschlimmern schien. Fluchend ließ er sich auf den Asphalt fallen und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Hauswand. Tim sammelte in der Zwischenzeit den Kiesel auf und ließ ihn in seiner Hosentasche verschwinden. Er war nicht mehr fit, aber es war gut zu sehen, dass er immerhin ein bisschen mehr Ausdauer hatte als sein Freund.

„Weißt du", sagte Tim. „Das war 'ne Scheiß-Idee."

„Es war 'ne grandiose Idee", sagte Stegi. „Du bist nur ein Spießer. Und du kannst nicht verlieren."

„Es war wenn überhaupt unentschieden!"

Stegi musterte ihn mit schief gelegten Kopf. Für einige Augenblicke schien er sich Tims Worte durch den Kopf gehen zu lassen. „Einverstanden", sagte er dann, und hielt Tim die Hand hin.

Tim schüttelte sie und zog Stegi anschließend zurück auf die Füße. „Also", sagte er, „wollen wir noch mehr nach Atem schnappen, oder ist es Zeit, Frühstück zu holen?"

Stegi boxte ihn. Verdient.

Sie bestellten drei Croissants, Brötchen, Kuchen für den Nachmittag (wenn man schon mal die ganze Strecke lief!), und einen schwarzen Coffee To Go für Stegi. Dabei musterte die Verkäuferin sie belustigt – durch das Fenster musste sie Teile des Spektakels mitbekommen haben –, und vielleicht bildete Tim sich das ein, aber sie schien sich bei der Kaffeezubereitung extra lange Zeit zu lassen, damit sie etwas länger am kleinen Tisch zu Atem kommen konnten. Sie schwiegen; erst auf dem Weg zurück hatte Tim das Gefühl, wieder genug Luft in der Lunge zu haben, um zu sprechen.

Sie liefen Hand in Hand den Bürgersteig hinab, Tim die Brötchentute in der linken, Stegi seinen Kaffee in der rechten Hand. Er hatte ihn in eine Servierte gewickelt, vermutlich, um sich an dem Becher nicht die Finger zu verbrennen. „Ich versteh' nicht, wie du das grad trinken kannst", sagte Tim. „Ist dir nicht warm?"

Stegi warf einen vielsagenden Blick auf Tims Jeans und lachte.

Punkt Nemo [Stexpert]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt