Das Dritte oder das, indem ich meine Beherrschung verlor.

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Es gab an diesem Tag wirklich nur eine Sache, die mich störte und das war Miss Harrison. Trotz meiner Freude über das wieder einigermaßen hergerichtete Haus, saß ich eher niedergeschlagen auf dem Sofa neben meinem Mann, welcher in eins seiner Bücher vertieft war. Eigentlich war es gut, dass wir mal aus der Stadt rauskamen und ich hatte mich gefreut ein paar Tage hier auf dem Landsitz zu verbringen. Aber nun, da unser Wochenendausflug diese eher unschöne Wendung genommen hatte, war meine Freude vergangen. Mycroft hatte mir hoch und heilig versprochen, dass wir zusammen in der Natur spazieren gehen würden. Noch dazu hatte er Zweisamkeit erwähnt, von der ich bisher nicht viel mitbekommen hatte. Natürlich konnte ich ihm deswegen nicht sauer sein, schließlich hatte auch er sich unser gemeinsames Wochenende außerhalb Londons anders vorgestellt. Ich schielte zu meinem Mann, der tatsächlich das erste Mal, seitdem wir hier angekommen waren, tiefen entspannt wirkte. Enola war im Nebenzimmer und wurde von Miss Harrison vermessen, wegen der Schuluniform, die sie tragen müsste. „Wird uns das Pensionat weniger Kosten, als eine Gouvernante, Mycroft?", erkundigte ich mich bei ihm. Selbstverständlich würde es uns weniger Kosten, als jegliche Privatlehrer für Enola zu arrangieren. Gleichzeitig mussten wir aber auch nicht so tun, als könnten wir uns dies nicht leisten. „Lass die Finanzen nur meine Sorge sein, Liebling.", antwortete er ohne von seinem Buch aufzuschauen und steckte sich gleich danach wieder seine Pfeife in den Mund. Holly schielte von ihrem Sofa zu mir rüber und verdrehte die Augen. Ihr war es nicht so ganz klar, warum Mycroft Enola unbedingt in ein Pensionat schicken wollte. Genauso wenig wie mir. Das ich Enola kein Gefallen tun würde, wenn ich vorschlagen würde, dass sie bei uns einziehen könnte und wir ihr Privatlehrer und eine Gouvernante holen würden, war mir wohl bewusst. Und mir war auch bewusst, dass es meinem Mann zu heikel war, Enola all diese Sachen hier im Anwesen zu ermöglichen, ohne dass er oder jemand anderes stets vor Ort war. Aber, dass Mycroft nicht einmal auf den Vorschlag seiner Schwester eingegangen war, Enola bei sich aufzunehmen, hatte mich stark verwundert. Es gab so viele Möglichkeiten dieses Debakel aus der Welt zu schaffen, aber für Mycroft gab es nur einen richtigen Weg. Miss Harrisons Mädchenpensionat! „Ich möchte dich unter keinen Umständen in Frage stellen, aber meinst du, dass Enola in einem Pensionat richtig aufgehoben ist?" Mycroft seufzte wehleidig und klappte sein Buch zusammen. Er sah zu mir rüber und sagte: „Sie braucht eine anständige Ausbildung und mit Miss Harrisons Hilfe, wird sie diese bekommen." Damit war das Thema für ihn abgehackt und er widmete sich wieder seiner Lektüre.

Bevor ich etwas erwidern konnte, hörte ich schon schnelle Schritte über das Parkett im Flur flitzen und kurz darauf stürmte Enola in das Zimmer. „Nein!", schrie sie auf und eilte vor die Sitzgelegenheiten. Hollys Gesichtsausdruck beschrieb das Wort ‚Schock' ausführlicher, als jegliche Definition. „Bitte tut mir das nicht an!", flehte sie. Mycroft sah schon fast Teilnahmslos zu ihr, wenn er denn überhaupt zu seiner Schwester sah. In Wahrheit weilte sein Blick noch auf dem Buch, dass er in den Händen hielt. Sherlock holte tief Luft, als müsste er an sich halten, nicht aufzuspringen und Enola mit zu sich zu nehmen. Allerdings waren die zwei Herrschaften nur daran versucht, den Blick nicht auf ihrem Unterkleid haften zu lassen. Sie waren, was das anging, nun mal Gentlemans. „Lasst mir doch mein Glück! Ich bin Glücklich hier!" Ich schielte zu Mycroft rüber, welcher ohne von seinem Buch hochzuschauen, aber in einem überraschend ruhigen Ton sagte: „Du bist jetzt eine junge Frau, Enola. Du brauchst eine Ausbildung." Enola holte Luft, um zu kontern. „Frag mich alles, was ich deiner Ansicht nach wissen muss!" Mycroft verzog genervt das Gesicht, schien sich aber wieder zu fangen, um so diplomatisch wie möglich sagen zu können: „Wenn sie dich so gut unterrichtet hätte, würdest du nicht in deiner Unterwäsche vor uns stehen." In dem Moment schnappte sich Holly die Tagesdecke des Sofas, die zusammengelegt neben ihr lag und versteckte Enolas Körper vor dem Raum. „So wirst du keinen anständigen Ehemann finden, Enola.", hauchte Holly sanft. „Ich will doch keinen Ehemann", rief Enola aus. Mycroft schnaubte belustigt. „Auch das, wird dir eine ordentliche Erziehung austreiben." Enola sah verloren und fast panisch umher und blieb an Sherlock hängen, der Einzige, der sie eventuell aus dieser Situation befreien konnte. Sie ließ sich vor ihn auf den Boden fallen, um ihn anzuflehen. „Bitte lass nicht zu, dass er mir das antut!" Sherlock seufzte wehleidig, sah seine Schwester an und sagte ruhig: „Du bist sein Mündel, mir sind die Hände gebunden." Das glaubte er doch wohl selber nicht! Er hatte Angst, wollte diese Bürde nicht tragen. War sich nicht sicher, ob er mit dieser Verantwortlichkeit umgehen konnte. Für jemanden da zu sein, der nicht er selber war. Enola machte es nur noch wütender. Sie erhob sich vom Boden, ließ die Decke los und fragte wütend: „So wie dir die Hände gebunden sind, wenn er unsere Mutter beschimpft?" Bei diesem Satz wurden die Holmes Kinder, in erster Linie Mycroft, aufmerksam. „Sie ist eine bemerkenswerte Frau, weder Gefährlich noch verrückt! Und wenn ihr das immer noch nicht begriffen habt, dann schämt euch alle!", entlud sie ihre gewaltige Wut im Raum und wollte abdampfen. Ich war geschockt, was für eine starke Persönlichkeit, aber auch Unverfrorenheit in Enola lebte, um so mit ihrem Bruder umzuspringen. Doch Mycroft ließ sich als Staatsmann auf solche Streitereien nicht ein. „So bemerkenswert, dass sie dich meiner Obhut anvertraut?", erkundigte er sich. Enola, die soeben auf dem Weg nach draußen war, hielt in ihrer Bewegung inne. Doch bevor diese Diskussion weiter ausarten konnte, stieß Miss Harrison dazu und legte einen Arm um Enola. Durch das eintreten der Pädagogin erhoben sich die beiden Herren. „Wir hatten schon einen netten Plausch, nicht wahr?", lächelte sie. „Wir werden wunderbare Freundinnen werden." Da war ich mir in der Tat nicht so sicher. Enola war wahrlich ein ganz anderes Kaliber und selbst die große Pädagogin Miss Harrison würde sich sicher die Zähne an ihr ausbeißen. Ich wollte in keinster Weise unverfroren sein, aber ich gönnte es ihr. Nur Enola tat mir wahrlich leid. Mycroft lächelte, als wäre vor ein paar Minuten nicht die Welt seiner kleinen Schwester zusammengebrochen. „Oh Miss Harrison, ich bin Ihnen so dankbar für ihre Gefälligkeit.", lächelte er, während Miss Harrison mit diesem Satz nicht gerechnet hatte und kurz sprachlos war.  „Mister Holmes, es ist mir eine Ehre.", fing sie sich mit einem gewissen anzüglichen Hauch in ihrer Stimme. Ein Hauch, denn man hätte, leicht überhören können. Sherlock sah kurz zu mir, denn offenkundig war dies hier kein normales Aufnahmegespräch. „Ich bringe sie Ihnen morgen.", entschied er, um der Erziehungsfrage endlich ein Riegel vor die Tür zu schieben.  „Persönlich.", hing er noch dran, was mir fast den Mund offenstehen ließ.  „Persönlich...", sprach sie laut aus und schien mich in ihrem Kopf schon aus dem Fenster zu schubsen. „Gut.", lächelte sie bestimmend.

Elizabeth Cavanaugh - The Wife Of Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt