Das Vierte oder mein Monolog

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In Gedanken versunken lag ich in einem Sessel, die Beine über die Armlehne geschlagen und blätterte still durch meine Zeitschrift. Tief im Inneren war ich immer noch aufgewühlt von meinem Gespräch mit Mycroft. Und die Tatsache, dass er morgen ohne mich zum Pensionat fuhr, hatte sich auch in meinem Magen verkeilt. Wieder fing ich die Seite von vorne an, mein Kopf wollte die Worte nicht aufnehmen. Mir fehlte schlichtweg die Konzentration und so schloss ich die Zeitschrift frustrierend und schleuderte die durch die Luft. Das Papier schlitterte den Parkettboden entlang und stoppte mit einem Rascheln am Bein eines Beistelltisches. Meine Handlung auf die Frustration, durch meine nicht vorhandene Konzentration, war in jeder Weise übertrieben. Doch mir tat dieser winzige Wutausbruch in diesem Moment unausgesprochen gut. Schwermütig erhob ich mich aus dem Sessel und verweilte einige Minuten nichts tuend im Raum. Komisch, was so eine innere Unzufriedenheit in einem auslösen konnte. Der Wille, am liebsten einfach liegenzubleiben und stundenlang nichts zu tun. So ein Mensch war ich nur einfach nicht und irgendwie hatte ich doch Lust meinen Frust auf andere Art und weiß zu lösen.
Flink hob ich meine Zeitschrift auf und legte sie auf den Beistelltisch, bevor ich mich aus dem Zimmer entfernte. Ich hoffte inständig darauf, Mycroft nicht im Korridor zu begegnen. Am liebsten wollte ich ihm den Rest des Tages nicht ein einziges Mal in meinem Blickfeld haben. Doch beim Abendessen, das nur noch gute drei Stunden entfernt war, würde mein Plan wohl nicht funktionieren. Der Boden knarzte einige Male, bis ich schließlich in der Küche ankam. Mrs Lane sah überrascht zur Tür, als ich hineintrat und hatte offensichtlich nicht mit mir gerechnet. „Mrs Holmes, ich... also", stammelte sie. „Entschuldigen Sie, ich habe nicht mit Ihnen gerechnet." Ich lächelte freundlich und winkte mit meiner Hand ab, während ich auf die Frau zu lief. „Sie brauchen sich nicht entschuldigen, Mrs Lane." Ich war mir nicht sicher, was Mrs Lane getan hatte, bevor ich die Küche betreten hatte, aber es sah ganz so aus, als wäre sie dabei gewesen, Kekse zu backen. „Ich sollte mich wohl bei Ihnen entschuldigen. Vielleicht hätte ich vorher anklopfen sollen." Dann herrschte für eine kurze Zeit schweigen. Die Köchin sah mich etwas ratlos an, gleichzeitig schien sie zu warten und erst jetzt fiel mir auf, dass ich mein Anliegen noch nicht mitgeteilt hatte. „Oh!", fiel mir mein Grund ein, aus dem ich die Küche aufgesucht hatte. „Nun, ich habe mich gewundert.", fing ich an, aber brach schlussendlich ab. „Können Sie sich noch daran erinnern, was Ihre Mutter getan hat, wenn Sie traurig waren?", änderte ich meine Herangehensweise. Mrs Lane zog verwundert eine Augenbraue hoch und wusste offensichtlich nicht, was sie dazu sagen sollte. Auf jeden Fall wusste sie dies im ersten Moment nicht. Denn einige Sekunden später, sah es so aus, als würde sie darüber nachdenken. „Oh nun...Meine Mutter? Sie hat mir wohl einen Tee gekocht und ihn mit mir getrunken, allerdings schweigend." Erinnerte sie sich daran und sah mich am Ende wieder abwartend an. „Meine Mutter...", fing ich an und ging in die Richtung des Ofens, während Mrs Lane mich mit ihrem Blick verfolgte. „...hat immer Kakao für uns gemacht.", erzählte ich und sah mir ihre Kekse auf dem Blech an, die Sie in den Ofen schieben wollte. Der Köchin schien ein Licht aufzugehen. „Enola würde sich über eine Tasse warmen Kakao sicher freuen." Ich nickte der Köchin lächelnd zu. „Hätten wir die Möglichkeit, welchen zuzubereiten? Am besten gegen Abend!"

Das Abendessen verlief schweigend. Niemand sagte ein Wort, auch wenn jeder etwas zu sagen hatte. Es waren genug Worte zu dem Thema gefallen und keiner von uns hatte die Kraft, um erneut damit anzufangen. Gleichzeitig störte es mich, dass wir nicht auf eine gemeinsame Lösung kommen konnten. Doch auch wenn das Abendessen so unbefriedigend endete, wie Miss Harrisons Besuch oder der Rest des Tages, war ich schlussendlich guter Dinge. In meinem Schlafgewand, mit zwei Tassen warmen Kakao und den frisch gebackenen Keksen von Mrs Lane, machte ich mich auf den Weg zu Enola. Vielleicht konnte ich ihr wenigstens dadurch den Abschied von dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, erleichtern. An ihrer Zimmertür angekommen, klopfte ich sachte mit meinem Fuß gegen diese. Ein leises „Herein" erklang von drinnen und mit etwas Fingerspitzengefühl, öffnete ich die Tür ohne unsere Getränke zu verschütten. Mit bedachten Schritten, trat ich in ihr überraschend ordentliches Schlafzimmer. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit Ordnung. Es war luftig, frisch und in einer sauberen weißlichen Tönung gehalten, mit beigen, sowie hellblauen Akzenten in Form von zaghaften Blumen. Mein Blick wanderte zurück zu Enola, die mich mit hochgezogener Augenbraue musterte. Sie hatte offensichtlich nicht mit mir gerechnet. „Ich bringe Kakao, mir hat er damals geholfen, als ich mein Elternhaus verließ." Die junge Dame beobachtete mich mit Misstrauen. Das konnte ich ihr nicht verübeln, schließlich war ich die Frau des Bruders, dem sie in keinster Weise wohl gesonnen war. Und auch das konnte ich ihn nicht verübeln. Also suchte ich mir wiedermal eine andere Herangehensweise. Ich hoffte nur, dass sie bei Enola genauso gute funktionierte, wie bei Mrs Lane. „Nun, meine Mutter hatte mir den Abend, bevor ich auszog um deinen Bruder zu ehelichen, Kakao gemacht. So wie sie es immer tat, wenn ich nicht schlafen konnte oder es mir nicht gut ging.", versuchte ich ihr Vertrauen für mich zu gewinnen. Sie nahm mir vorsichtig eine Tasse ab und setzte sich zurück auf den Boden. Ich ließ mich auch zu ihr hinunter und stellte den kleinen Teller Kekse ab. „Was hat deine Mutter gemacht, wenn es dir nicht gut ging?", fragte ich vorsichtig nach. „Ich bin mir nicht recht sicher, wir hatten kein Ritual. Sie war stets recht distanziert, die meiste Zeit auf jeden Fall.", erklärte Enola und nippte an ihrem Kakao. Ich spähte über den Boden. Im Hintergrund, leicht versteckte, schimmerte etwas unter einer Kommode hervor. Sie schien ein Geheimnis zu haben und hatte nicht im Bett gelegen, was ich auch nicht wirklich von ihr erwartet hatte. Ich entschied mich, dieser Sache nicht weiter auf dem Grund zu gehen, denn es war ihr Geheimnis. „Liebst du ihn?", riss mich ihre Stimme aus meinen Gedanken. Mir entfuhr nur ein fragendes „Mhn", woraufhin sie sich wiederholte. „Meinen Bruder, hast du ihn aus Liebe geheiratet?" Etwas irritiert von dieser Frage, sah ich stumm in den Raum. Klar war sie auf gewisse Art und Weise berechtigt. Auch war ich mir sicher, dass sich Enola nachdem Tag mit Mycroft schwer vorstellen konnte, dass es jemanden geben musste, der ihn liebte. Aber doch war ich von dieser direkten Frage sehr überrascht. In Nachhinein betrachtet war ich mir nicht sicher, was ich vor unserer Hochzeit für ihn empfand. War es doch vielleicht nur Zuneigung seines Standes wegen oder auch der Tatsache geschuldet, dass mein Vater ihn als perfekte Partie betrachtete. Und natürlich waren da noch meine Freundinnen, die über nicht anderes redeten, als Mycroft, obwohl er nie der begehrteste Junggeselle war. Noch dazu war er mir überaus sympathisch und wir verstanden uns recht gut. Hatte ich ihn also aus Liebe geheiratet? „Das ist nicht so einfach. Er war am Anfang wohl eher ein guter Freund." Sie schien es nicht zu verstehen. Natürlich nicht, wie auch? Die Welt war nicht für Liebe gemacht. Aber ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Mycroft hatte ich den ganzen restlichen Tag aus meinen Gedanken verdrängt. Ich war aus einem anderen Grund hier. „Ich möchte mich bei dir entschuldigen, Enola." Ihr Blick wurde abwartend und ein bisschen neugierig. „Nun, Mycroft mag nicht immer fair sein, aber heute Nachmittag waren seine Handlungen keines Falls berechtigt! Er ist sehr erzürnt über eure Mutter und den Zustand des Hauses. Es ist nicht gerechtfertigt, dass du darunter leiden musst." Sie schwieg, schien über meine Worte nachzudenken. Doch gleichzeitig war da noch etwas. Ich sah ihr an, dass sie noch unbedingt etwas erledigen wollte oder musste. „Ich möchte dich nicht weiter vom schlafen abhalten, aber wenn du irgendetwas brauchen solltest oder über irgendetwas reden möchtest." Ich nahm Blickkontakt zu ihr auf. „Weißt du, wo du mich findest." Vorsichtig erhob ich mich von Boden mit meiner fast leeren Kakao-Tasse und ging zur Tür. „Ich werde jetzt zu Bett gehen. Gute Nacht und versuch etwas Schlaf zu finden."
Mit einem etwas beruhigten Gewissen, wenigstens kurz mit Enola geredet zu haben, brachte ich meine Tasse in die Küche zurück. Natürlich beruhte unser Gespräch eher auf Einseitigkeit, aber ich glaubte nicht, dass ich in der Nacht vor meiner Hochzeit gesprächiger war.

Es war eine unruhige Nacht. Ich fühlte mich einsam. Es war ungewöhnlich, dass ich alleine in unserem Bett schlief. Eigentlich war es seit meiner Hochzeit nie wirklich vorgekommen, dass ich Nächte alleine verbrachte. Mycroft kam jede Nacht zurück, auch wenn erst recht spät und nur für ein paar Stunden. Es war daher auch ein erheblicher Fakt, dass mein Schlaf ruhiger verlief, sobald er da war. Seufzend erhob ich mich aus meinem Bett und lief flink über den Boden zur Tür, um erneut in den Korridor zukommen. Auf dem Weg zum Gästezimmer, indem sich Mycroft zur Ruhe gelegt hatte, statt tatsächlich das Sofa zunehmen, plagte mich mein Ehrgeiz allerdings sehr. Um zu beweisen, dass ich eine selbstständige Frau sein konnte und nicht auf ihn angewiesen war, sollte ich diese Sache durchziehen. Meine Hand umschloss den Knauf, doch ich zögerte. Ich konnte jetzt nicht aufgeben, nur weil ich nicht einschlafen konnte. Was hatte ich zu verlieren? Diese eine Nacht musste ich nicht zwingend schlafen. Und wenn es ihm zeigte, wie sich unsere Beziehung in Zukunft ändern sollte, dann musste ich das definitiv durchziehen, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Ich wollte, dass wir Probleme zukünftig zusammen angehen würden.

Ich zog die Decke noch ein Stück höher und schloss die Augen. Mein Körper musste nur verstehen, dass wir jetzt schlafen wollten. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, um mich von ihr in den Schlaf gleiten zu lassen. Ähnlich wie Schäfchen zählen.

„Sherlock!", dröhnte die Stimme meines Mannes durch das Anwesen und riss mich aus meinem Schlaf. Ich war mir nicht ganz sicher, wann ich eingeschlafen war und hatte auch nicht das Gefühl, überhaupt eingeschlafen zu sein. Aber dafür fühlte ich mich überraschend wach. Schnell krabbelte ich aus dem Bett, schnappte mir meinen Morgenmantel und eilte zur Tür. Er hatte zwar nicht nach mir gerufen, aber ich war viel zu neugierig, als dass ich mir diese Spektakel entgehen lassen würde.

~Nequesse

Elizabeth Cavanaugh - The Wife Of Mycroft HolmesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt