Stumm las ich die letzten Worte des Briefes, den Holly mir zukommen lassen hatte, als ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Zu meiner Überraschung war sie dieses Mal weder schwungvoll noch aggressiv geschlossen worden. Ich erhob mich von meinem Schreibtisch und lief den Korridor zum Treppenabgang hinunter. Ich war neugierig, aus welchem Grund mein Mann wohl gut gelaunt sein musste. Zumindest hoffte ich, dass ich bei dieser Vermutung richtig lag. Er hätte schließlich auch niedergeschlagen und entkräftet nach Hause kommen können. Vorsichtig lehnte ich mich gegen das Treppengeländer und sah gerade lang genug nach unten, um zu sehen, wer dort im Flur stand. Es war Enola und ich musste kurz innehalten, bevor ich mir wirklich sicher war, dass sie es sein musste. Pure Erleichterung machte sich in mir breit, als ich ihre Anwesenheit verarbeitet hatte und ehe ich noch weiter darüber nachdenken konnte, eilte ich die Treppe hinunter. Doch stoppte vor dem letzten Stufen, um nicht ungehalten zu wirken. „Mr. Holmes, willkommen zu Hause.", hörte ich Miss Griffiths Stimme, bevor ich in den Eingangsbereich des Hauses trat. „Lassen Sie Clara bitte einen Tee aufsetzten und geleiten Sie meine Schwester in die Wohnstube." Unsere Haushälterin nickte verstehend und verschwanden mit meiner Schwägerin in das Innere des Hauses, während Mycroft, der meine Anwesenheit kurz danach bemerkt hatte, sich zu mir umdrehte. Ich hielt mich immer noch recht ungläubig am Ende des Geländers der Treppe fest und wirkte dadurch wohl etwas realitätsfern. „Elizabeth?", fragte er, um mich aus meiner Starre zu holen. „Geht es ihr gut?", war meine erste Frage, als ich wieder zur Besinnung kam. Etwas bedröppelt sah mein Mann mich an. „Ihr fehlt nichts, außer ein paar blaue Flecken.", erklärte er und musterte mich von oben bis unten. Sein Blick war recht besorgt. „Geht es dir gut, Liz?" Die Frage war recht kompliziert zu beantworten. Zum einen ging es mir gut, allerdings hatte ich seit dem Gespräch mit Sherlock viele Sorgen, die sich in meinem Kopf sammelten. Und die Tatsache, dass mein Mann so gut wie nie zu Hause gewesen war, in den letzten Tagen, machte die Sache nur bedingt einfacher. „Ich denke schon.", gab ich etwas unbeholfen von mir. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er meine Hände griff, sie zu seinen Lippen führte und sie zaghaft küsste. Ein warmes Gefühl, machte sich in mir breit und ich merkte, wie meine Wangen leicht rot wurden. Diese Art von Aufmerksamkeit hatte ich seit Tagen nicht von ihm bekommen. „Wie wäre es mit einem Tee, bevor ich Enola zum Pensionat fahre?" Pensionat? Er wollte seine Schwester noch heute wegfahren. „Mycroft, ist jetzt nicht die Zeit für das Abendessen?" „Nun, dafür wird wohl heute keine Zeit sein, aber ein Tee beruhigt für gewöhnlich die Nerven.", erklärte er. Unrecht hatte er nicht, Tee war stets eine gute Wahl. Allerdings verstand ich nicht, warum er es mit seiner Schwester so eilig hatte. Ich wollte aber nicht erneut mit ihm streiten, jetzt wo wir uns wieder etwas näherkamen. „Du hast wohl recht. Möglicherweise ist es für alle Beteiligten besser, wenn Enola sich nicht allzu sehr an das Leben in unserem Haus gewöhnt und so früh wie möglich eine Dame werden kann." Mycroft nickte und hatte sein triumphierendes Lächeln auf den Lippen. Zusammen gingen wir in den Wohnbereich unseres Hauses, indem sich auch meine Schwägerin befand, die bockig auf unserem samt dunkelgrünen Chaiselongue saß. Sie war keines Falls erfreut über die Tatsache, jetzt doch in das Pensionat gehen zu müssen und erst recht schien es sie zu stören hier zu sein. Vielleicht war es doch besser, sie die Nacht über in sicheren Händen zu wissen. Auch wenn es mir zum Teil missfiel, sie in die Hände von Miss Harrison zugeben, gab es doch bessere Möglichkeiten sie Gesellschaft tauglich zu machen. Miss Griffiths kam mit der Teekanne zum Beistelltisch und schenkte uns jeden ein Glas ein. Mycroft sah grübelnd auf die Uhr. Während ich mich auf meinen Sessel niedergelassen hatte, blieb er im Raum stehen, weswegen ich ihm einen fragenden Blick zu warf. Er räusperte sich kurz. „Liebling, entschuldige mich, allerdings muss ich bevor wir aufbrechen noch dringend einer Angelegenheit nachgehen.", erklärte er sein Schauen auf die Uhr und die Tatsache, dass er sich nicht gesetzt hatte. „Selbstverständlich will ich dich nicht davon abhalten. Enola und ich kommen gut allein zurecht.", versicherte ich ihm und er verschwand mit einem nickenden Lächeln aus dem Wohnbereich. Ruhe war nun im Raum eingekehrt und ich war mir noch nicht sicher, wie ich auf die Situation reagieren sollte. Ich konnte meiner Schwägerin ja wohl kaum einen Vorwurf machen, dass sie die Flucht ergriffen hatte und noch weniger konnte ich meinen Ehemann vor ihr in Schutz nehmen. Aber wohl eher war Enola die Person, die falsch verstanden war. Allerdings war es auch nicht verkehrt, die gesellschaftlichen Normen kennenzulernen. Schließlich konnten sie ihr einen großen Dienst erweisen, auch wenn man sie nicht schätzte. „Enola, ich kann mir gut vorstellen, dass du aufgewühlt bist.", fing ich ruhig an, obwohl ich ganz genau wusste, dass das das Letzte sein musste, das sie von mir hören wollte. Auch ich hätte meiner Mutter vermutlich den Kopf umgedreht, wenn sie so einen Satz zu mir gesagt hätte. Nur fiel mir in diesem Moment nichts Besseres ein. Sie reagierte natürlich nicht darauf. Sie reagierte auch nicht auf meinen Satz, also versuchte ich anders mit ihr ins Gespräch zu kommen. „Holly und Sherlock haben sich große Sorgen um dich gemacht. Sie waren die letzten Wochen fast ausschließlich mit deiner Suche beschäftigt." Aber auch auf diesen Satz sprang Enola nicht an. Sie saß stur auf dem Chaiselongue, schwieg und rührte nicht einmal das Teeglas an, was ihr Clara gefüllt hatte. Ich gab auf, mit meiner Schwägerin ins Gespräch zu kommen und widmete mich dem Buch, welches ich auf dem Beistelltisch liegen gelassen hatte. „Weiß Mycroft, dass du feministische Bücher liest?", erklang ihre Stimme plötzlich doch. Ein kurzer Schock durchfuhr meine Glieder, hatte ich doch extra einen Papiereinband um eben diese Bücher geschlagen. Romanzen, die Mycroft in seinem Leben nie anfassen würde. Doch Enola hatte mein Prinzip blitzschnell durchschaut. Und bevor ich ihr überhaupt irgendwas erwidern konnte, sprach sie auch sogleich weiter. „Warum lässt du zu, dass er mich auf dieses Pensionat schickt, wenn es deiner eigenen Meinung widerstrebt?" Perplex saß ich einfach nur in meinem Sessel und sortierte noch die Worte, die mir Enola an den Kopf geworfen hatte. Ich holte tief Luft und versuchte kurz meine Gedanken zu sammeln. „Ich kann nichts tun, Enola. Auch wenn ich deinen Frust verstehen kann, aber ein Pensionat kann auch Vorteile bieten. Es wird dir sicherlich vom großen Nutzen sein, gesellschaftliche Normen zu kennen und im richtigen Moment einzusetzen. So verschaffst du dir einen gewissen Respekt. Merk dir eine Sache, nichts ist umsonst." Kaum hatte ich meinen Satz zu Ende gesprochen, kam Mycroft in den Raum. „Komm, Enola, wir müssen uns sputen."
∞
„Mein Gärtner hat neue Rosensträucher angesetzt, die solltest du unbedingt sehen.", erhob sich Holly, um eine angenehmere Umgebung für unser nachfolgendes Gespräch zu schaffen. Die Sonne schien durch die weißen Wolken fetzen am Himmel, als wir den Garten des Anwesens ihres Mannes durch die weiße Holztür mit Fenstergläsern betraten. „Ihr habt einen wahrlich herrlichen Garten, Holly." Dadurch, dass das Anwesen so weit außerhalb von London stand, umgab es auch eine friedliche und ruhige Stimmung, welche unser Heim nie hatte. Hollys Augen blitzten auf, als ich sie für den Garten lobte und ein breites Lächeln umspielte ihre Lippen. „Es tut so gut, dass ich es endlich von jemanden höre. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich es Winstons Mutter nicht recht machen kann.", gab sie etwas angeschlagen von sich. „Die Rosen sind entweder zu hoch oder passen farblich nicht zum Gemäuer. Die Sonnenblumen sind nicht prächtig genug und die Hecken nicht dicht genug und gerade geschnitten. Ich bin zufrieden mit der Arbeit unserer Gärtner, nur sie nicht. Jedes Mal, wenn sie zu Besuch kommt, mahnt sie den nächst besten ab." Ein Seufzten verließ ihre Lippen, während sie mit ihren Fingerspitzen über die Blätter einer Rose fuhr. Ich hatte die Mutter Ihres Mannes noch nie getroffen, aber ich wusste, wie schwer es Holly mit ihr hatte. Sie beschwerte sich nicht, aber sie erwähnte oft in meiner Gegenwart, welche Steine sie ihr aber mal in den Weg gelegt hatte. Da konnte ich wahrlich noch von Glück reden, dass Mycrofts Mutter eher darum bemüht war, nicht in Erscheinung zu treten.
„Aber nun zu dir!", entschied Holly plötzlich und harkte sich bei mir ein, während wir durch den Garten wanderten. „Zu mir?", fragte ich leicht aufgeschmissen. Ich überlegte, was ich ihr erzählen wollte und was ich lieber weglassen sollte. Wie ich mich mit Mycroft stritt und was oder besser, wer mir in dieser Zeit die Last von Schultern nahm. Denn die Person, die in meine Welt seit den letzten Tagen wieder Farbe brachte, war nicht Mycroft. „Wo fang' ich da nur an. Du weißt sicher, dass dein Bruder das letzte Mal, als wir alle Vier beisammen waren, nicht mit mir geredet hat. Nun, es hat sich nur bedingt gebessert." Holly verdrehte genervt die Augen, was nicht an mir lag, sondern an dem Verhalten ihres Bruders mir gegenüber. „Ich rede mit ihm, wenn du willst.", schlug sie vor und ließ sich auf einer Bank im Garten nieder. Ich wusste ihre Hilfe zu schätzen, aber er war mein Mann, ich musste selber mit ihm reden und die Dinge wieder geradebiegen, so funktionierte eine Ehe. „Danke, aber ich werde diese Sache wohl allein in die Hand nehmen." Holly schien davon nicht sehr überzeugt, sie wusste, was für ein Dickkopf ihr Bruder sein konnte. Doch seitdem wir Enola wieder gefunden hatten, machte ich mir Hoffnung, dass es doch wieder besser werden würde.
„Winston wird befördert.", änderte meine Schwägerin das Thema und sah in die Wolkenfetzen, die über den Himmel schwebten. „Zum Colonel." Mein Blick fiel in ihr betrübtes Gesicht, während sie die Worte aussprach. Sie liebte ihn und sie wusste, welcher Druck auf ihrem Mann lag, schon allein, wegen des Rufes, den seine Familie besaß. Aber die Angst, ihn möglicherweise zu verlieren, war groß. „Ich möchte ihn nicht verlieren, Liz." Ich hörte ihren Bedenken zu, das war das Einzige, wie ich ihr in dieser Situation beistehen konnte. Und mehr wollte sie auch nicht von mir. Ich sollte nur ein offenes Ohr für sie haben. Die Sonne schien uns ins Gesicht und ich legte den Kopf in den Nacken, um die Sonnenstrahlen aufzufangen. „Ich werde so lange nicht ruhig schlafen können, bis er nicht endlich in den Generalstab aufgenommen wird." Sie seufzte kurz und gab zu, dass sie auch dann nicht ruhig schlafen würde, wenn er nicht an ihrer Seite war. Wir schwiegen uns an. Ein Eichhörnchen flitzte über den Zaun und verschwand in die große Eiche, die am anderen Ende des großen Gartens stand. „Mit dieser Sorge schlage ich mich herum, seitdem ich Winston geheiratet habe und das Einzige, was seine Mutter interessiert, ist mein Garten und wann ich endlich Mutter werde." Sie pausierte erneut, als wäre das Nächste, was sie sagen wollte, schwer zuzugeben und in der Tat war es das auch, als sie schlussendlich den Mund öffnete. „Es gibt diese Momente, da schaue ich in die Weiten des Himmels und frage mich, ob ich jemals Mutter werden möchte." Kurz blieb mir die Luft weg, als Holly die Worte ausgesprochen hatte. Bevor ich etwas erwidern konnte, fiel sie mir auch schon ins Wort. „Ich habe Angst davor, Liz." Ich wusste nicht, wie ich das verstehen sollte, aber ich konnte möglicherweise nachvollziehen, wie sie sich fühlte. „Wovor genau hast du Angst?" „Allein mit den Kindern zu enden. Die Unzufriedenheit seiner Mutter, wenn ich versage. Ihr hilflos zu erliegen, wenn Winston etwas zustoßen sollte. Dieses kleine Wesen wird von mir abhängig sein. Ich werde der engste Bezug sein und ich habe Angst davor, dass ich es verliere, obwohl es noch nicht existiert. Ich habe so viele Zweifel, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass ich für dieses Kind sorgen könnte."
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Elizabeth Cavanaugh - The Wife Of Mycroft Holmes
FanfictionElizabeth Holmes, geborene Cavanaugh, war sich noch nie ganz einig, ob selbsterverwirklichung im Bezug auf die Gesellschaft extrem ausgeübt werden sollte, oder ob man ab und zu auch bestimmte Regeln akzeptieren musste. Ihr Mann hingegen, Mycroft Hol...