„War ich nicht vor fünf Minuten draußen zum Schippen?", fragt der völlig entrüstete Joseph, als er den neuen Schnee auf der Auffahrt durch das Küchenfenster erblickt.
„Ja, Schatz, aber du siehst ja, es bringt nichts", antwortet seine Frau Iris, während sie ihm eine Hand auf die Schulter legt.
„Das kann ich so nicht liegen lassen. Möchtest du etwa, dass wir eingeschneit werden? Nein, nein. Ich geh da noch mal raus. Wo ist eigentlich Oskar? Die faule Socke könnte mir echt mal helfen", brummelt Joseph vor sich hin und schnappt sich die nassen Stiefel.
Der Sohn des Hauses Kerrhein hat sich in seinem Zimmer zurückgezogen und ist darin versucht, die Geschenke – die er natürlich erst auf den letzten Drücker gekauft hat – kämpferisch in das Papier einzupacken. Ursprünglich wollte er ja irgendwelche Gutscheine verschenken. Für das Geschirrspülerausräumen und den Rasen mähen zum Beispiel. Allerdings hat seine Mutter zu den drei Kindern in diesem Jahr gesagt, entweder es gibt was Vernünftiges oder gar nichts. Das gilt für alle.
Joseph schippt draußen in der Kälte den Schnee von Weg und Auffahrt, schimpft dabei leise vor sich hin. Zu seiner persönlichen Befriedung sieht es bei seinem verhassten Nachbarn noch verschneiter aus. Vermutlich war dieser noch gar nicht draußen.
In der Küche steht Iris zwischen mehreren Töpfen und kocht das Festmahl. Doch je mehr der Schnee fällt, desto weniger glaubt sie, dass der Besuch kommen wird. Dabei hatte sie es sich so schön vorgestellt in diesem Jahr. Ihre Schwester wollte mit der Familie kommen. Nachdem sie ans andere Ende des Landes gezogen ist, haben sie sich kaum noch gesehen und es soll das erste gemeinsame Weihnachten nach vielen Jahren sein. Iris versucht, optimistisch zu bleiben und konzentriert sich auf das Essen. Es kann schließlich nicht sein, dass auf den letzten Metern noch was schief geht. Doch der Wettervogel auf ihrem Tablet hat noch vor einer Viertelstunde von einem drohenden Schneesturm in ihrer Gegend gesprochen und wenn sie sich die Lage dort draußen so anschaut, könnte er recht haben. Aber noch ist nichts verloren. Sie liest erneut in dem Rezept, was schon ihre Urgroßmutter verfasst hat. Gänsebraten, selbst gemachter Rotkohl und ebenfalls selbst gemachte Kartoffelklöße, dazu die gute Bratensoße, die ihre Kinder so lieben. Außer ihre älteste Tochter, denn Lavinia ist seit zwei Jahren Vegetarierin. Sie bekommt stattdessen Haferbratlinge und eine Rahmsauce. Bei der Vorbereitung der Zubereitung hat Lavinia sogar geholfen. Dabei mag sie es nicht so gerne, selbst zu kochen. Iris wirft einen Blick auf die Uhr, sie ist richtig gut in der Zeit. Der Vogel ist ziemlich aufwendig zu garen, heute Morgen ist Iris dafür extra früh aufgestanden (nachdem sie gestern Abend bereits angefangen hat, ihn langsam vorzubereiten). Sie wollte in diesem Jahr nicht diesen Stress haben.
Joseph kommt wieder ins Haus und muss aufpassen, nicht den gewischten Hausflur wieder dreckig zu machen mit seinen Schneestiefeln und dem tropfenden Mantel. Auf Socken kommt er in die Küche und teilt seiner Frau mit, dass das Schippen kaum einen Sinn hat. Der Schnee werde immer mehr und in fünf Minuten könne er schon wieder rausgehen.
„Was ein Mist, hoffentlich kommen Hanne und ihre Familie gut her. Wann wolltest du deine und meine Eltern abholen?"
„Wenn das so weiter geht, gar nicht."
Iris schluckt, mit dieser Direktheit hat sie nicht gerechnet. Für einen Moment verharrt sie in ihrer Bewegung, doch sie fängt sich schnell wieder.
„Das wird schon gut gehen."
„Deinen Optimismus möchte ich haben."
Der Mann verzieht sich aus der Küche, um die Stiefel zu trocknen und an die Heizung zu stellen. Auch wenn er die Hoffnung auf ein großes Fest mehr und mehr verliert, entschließt er sich dazu, das Wohnzimmer zu staubsaugen. Lavinia ist grade dabei, einen geeigneten Platz für ihre Bluetooth Box zu finden, damit nebenher die Weihnachtsplaylist laufen kann.Die Zeit vergeht wie im Flug, doch der Schnee wird nicht weniger. Noch zweimal war Joseph draußen, um zu räumen. Doch es hat keinen Zweck, der Wetterfrosch hatte recht. Iris steht traurig in der Küche vor dem Herd, Tränen bahnen sich über ihre Wangen. Ihre Schwester hat eben abgesagt, aus dem Hotel kommen sie gar nicht raus, indem sie nächtigen. Straßen sind gesperrt, Flüge gestrichen, Züge fallen aus. Joseph telefoniert grade mit seinen Eltern, dass er sie nicht holen kommt. Ob sein dementer Vater das überhaupt versteht, weiß er nicht. Oskar, Lavinia, Nelly und Rachel sitzen im Wohnzimmer und starren den so schön gedeckten Tisch an. Im Hintergrund läuft ironischer Weise Es schneit von Rolf Zuckowski.
„Mach das aus", brummt Oskar.
„Ja...", murmelt Lavinia und zückt ihr Smartphone.
Joseph versucht derweil, seine Frau zu trösten. Sie hatte sich doch so auf dieses Weihnachten gefreut. Ihre Schwester hat natürlich direkt gesagt, dass sie das Wiedersehen in den nächsten Tagen nachholen, aber es war ja alles für heute geplant. Das Essen ist fertig, die Geschenke liegen unter dem Baum.
„Niemand sagt, dass wir das alles wegwerfen müssen, Schatz. Schau, wir essen gleich zusammen ganz gemütlich und machen uns einen wunderschönen Abend mit einem Film. Wie wäre es mit Schöne Bescherung."
„Wo die ganze Familie zusammenkommt?", schluchzt Iris.
„Du hast Recht, ganz schlechter Vorschlag. Dann die Geister die ich rief oder so. Uns fällt schon was ein. Lass den Kopf nicht hängen, vieles kann man auch noch morgen essen, vertrau mir."
Langsam nickt Iris, es hat ja auch keinen Zweck, das schöne Abendessen verkommen zu lassen. Mit Blick auf eben Genanntes wäre ihr auch noch beinahe der Rotkohl angebrannt und Lavinias Bratlinge sind auf einer Seite etwas schwarz geworden. Welch Ärger, der zu diesem Tag perfekt passen mag.
Sie tragen gemeinsam das Essen ins Wohnzimmer zum Esstisch und berichten ihren Kindern von dem Plan. Sie setzen sich an den Tisch und beginnen mit dem Festmahl. Doch Iris hat kaum mehr Appetit.
„Ach komm schon Mama, mit uns ist es doch nicht viel weniger schön", meint Nelly zwischen zwei Bissen.
„Ja, du hast ja Recht."
Das Essen schmeckt köstlich, zum Nachtisch gibt es Eis Sterne mit Zimt und selbstgemachten Lebkuchen. Mitten auf dem Tisch brennt eine kleine Kerze, die einen zusätzlichen Duft versprüht und die Gemütlichkeit verstärkt. Trotz des fehlenden Besuchs fühlt es sich nach richtigem Beisammensein an.Vollgefuttert und zufrieden haben sie sich auf die große Couch begeben. Lavinia und Rachel haben sich in Decken eingekuschelt. Ein Film läuft, der ihrer aller Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Der Raum ist in das warmweiße Licht des Weihnachtsbaumes gehüllt. Sie lachen zusammen, sie erleben gemeinsam den Showdown des Films. Danach werden die Geschenke ausgepackt, ein Würfel entscheidet, wer sich eins nehmen und auspacken darf. Großes Erstaunen bei den Eltern, dass es keine Gutscheine gibt. Stattdessen ein Massagegerät für Iris und ein Legobauset für Joseph. Überall fliegt Geschenkpapier herum, Lavinia hat noch versucht, welches zu retten, um es auch noch im nächsten Jahr benutzen zu können. Iris bekommt ein Foto von ihrer Schwester zugesandt, wie diese im Hotel mit allen anderen Gästen, die das Hotel nicht verlassen konnten, feiert. Eine große Leinwand ist im Speisesaal aufgebaut und laut ihrem Bericht gab es ein schönes Weihnachtsessen. Sie alle hoffen, dass sie sich am nächsten Tag sehen können.
Draußen hat der Schnee etwas nachgelassen. Joseph geht noch ein letztes Mal für dieses Tag nach draußen, um zu schippen, damit sie nicht völlig einschneien. Diesmal hilft Oskar ihm, ganz ohne Anmerkung oder Frage. Joseph zaubert dies ein Lächeln auf die Lippen. Iris sitzt währenddessen mit ihren Mädchen am Esstisch, sie spielen ein Gesellschaftsspiel. Es ist eine lustige Runde und sie alle müssen feststellen, dass es trotz des fehlenden Besuchs der Familie doch ein wunderschöner Heiligabend geworden ist.
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It's Christmas Time || Adventskalender 2022
Short Story"It's the most wonderful time of the year" So heißt es in dem Lied von Andy Williams. Und da eben diese vor der Tür steht, gibt es hier jeden Tag ein neues Kapitel, eine neue kleine Weihnachtsgeschichte bis Heiligabend.