Türchen 4

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Es ist schon spät, die Zeit ist weit in die Nacht hinfort geschritten. In der Entfernung sind die Kirchenglocken zu vernehmen, die Messe ist so eben beendet worden. Nur vereinzelt passiert ein Auto die dunklen Straßen, erleuchtet die Wege mit seinen Scheinwerfern. Leise rieseln kleine Schneeflocken hinab und lassen sich auf den vor Stunden sporadisch geräumten Wegen nieder. Kaum eine Menschenseele ist zu sehen.

Besonders eine fällt in dieser Nacht auf. Es ist ein Wunder, dass die junge Frau sich mit den Absätzen ihrer Stiefel in der leichten Schneedecke auf den Beinen halten kann. Sie trägt ein rotes Kleid, passend zur Weihnacht. Einzig eine dünne Jacke, passend zum Kleid, hält ihren schlanken Körper warm. Ihr Gesicht ist gen Boden gerichtet. Man mag meinen, um nicht zu fallen. Der wahre Grund aber ist, dass niemand ihr verweintes Gesicht sehen soll. Sie hat die Arme fest um den Körper geschlungen, hat mittlerweile keine Ahnung mehr, wo sie ist. Sie ist in einer völlig fremden Stadt, sie kann nicht einmal nach Hause. Wo das nächste Hotel ist, weiß sie nicht. In diesem Moment ist ihr das aber auch egal. Genauso wie ihr gleich ist, dass sie friert. Sie will nur weg, so weit weg, wie es nur geht. Es ist Weihnachten, das Fest der Liebe. Der Tag, an dem man am allerwenigsten herausfinden möchte, dass der eigene Freund einen betrügt.

Dabei fing alles so harmonisch an. Seine Eltern hatten sie zu sich eingeladen, um Heiligabend gemeinsam zu verbringen. An den anderen beiden Weihnachtstagen waren die Schwiegereltern bereits bei anderen Verwandten eingeladen. Sie haben sich auf den fünfundsiebzig Kilometer langen Weg gemacht. #auch seine Schwester Lea war anwesend. Es gab grandioses Essen, denn Leonards Vater ist Chefkoch in einem Vier-Sterne-Restaurant. Die Ente war nahezu perfekt, der Brokkoli auf die Minute gegart und die Kartoffeln genau bissfest. Selten hatte sie so ein leckeres Weihnachtsessen gehabt, schon alleine, weil ihre eigenen Eltern ziemliche Kochlegasteniker sind. Dort hätte es Kartoffelsalat mit Würstchen gegeben. Zum Nachtisch gab es selbstgebackenen Apfel-Zimt-Kuchen. Es war alles perfekt. Zu perfekt. Nachdem alle satt waren, sangen sie gemeinsam noch zwei Weihnachtslieder, ehe sie zur Bescherung übergingen. Für Leonard hatte sie sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Da sie nun bereits siebeneinhalb Jahre, also seit sie 17 waren, zusammen waren, hat sie ein Album aus allen Fotos, besonderen Momenten und Chatverläufen zusammengestellt. Einen Monat lang hat sie alles rausgesucht und gesammelt. Er freute sich sehr über das Geschenk und versprach, es sich mit ihr gemeinsam zu Hause genauer anzuschauen. Er schien wirklich gerührt zu sein. Wie süß. Dann aber kam der Moment, in dem sie ihr Geschenk erhielt. Zuallererst war sie zu Tränen gerührt, eine Kette mit einem kleinen Engel als Anhänger. Sie war aus echtem Silber.
„Das ist dein persönlicher Schutzengel", hat er noch zu ihr gesagt, „Ich habe hinten deinen Namen eingravieren lassen."
            Sie schaute auf die hintere Seite des Engels. Daria stand dort in wunderschöner geschwungener Schrift, klein, aber doch gut lesbar. Schlagartig wechselte ihre Miene, als würde ihr alles aus dem Gesicht fallen. Das Problem? Sie heißt gar nicht Daria, sondern Angelina. Entgeistert starrte sie ihren Freund, den sie doch so liebte, an. Der wurde mit einmal hochrot, ohne dass sie etwas sagen musste. Das war der Moment, in dem ihr Herz brach. Trotzdem versuchte er, die peinliche Situation zu überspielen.
„Was ist denn, Angelina?"
„Du weißt also doch noch, wie ich heiße? Wer zur Hölle ist Daria?!", fauchte sie mit einer plötzlichen aufkommenden Wut.
„Ich kenne keine Daria, da muss eine Verwechselung vorliegen. Ich kann sie sicher umtauschen."
„Lüg mich nicht an", antwortete sie kalt.
           Peinlich berührt saßen seine Eltern und Lea daneben, keiner von ihnen wagte es, auch nur ein Wort zu sagen.
„Schatz, ich..."
„Sag mir die verfickte Wahrheit! Ist es die Neue aus deinem Masterkurs? Ist SIE das?!"
      Leonard schaute sie einfach nur an, als wüsste er nicht, was er darauf antworten sollte. Einige Sekunden war es still, dann öffnete er doch den Mund.
„Ich liebe dich Angelina...", setzte er an.
       Sie schloss die Augen und atmete kurz tief durch.
„Es tut mir leid", knickte er dann doch ein, „Daria wollte sich immer mal wieder zum Lernen treffen, hatte ich dir doch erzählt. Du hattest schließlich kein Problem damit und dann ist das irgendwie einfach passiert..."
„Irgendwie einfach passiert? Willst du mich verarschen? Weil ich kein Problem damit habe, dass du dich mit deiner Kommilitonin zum Lernen triffst, ist es eine Rechtfertigung dafür, mich zu betrügen?! Sag mal brennst du?!"
„Schrei mich bitte nicht an", murmelte er.
„Ich mach gleich noch was ganz anderes! Wie lange geht das schon?!"
        Wieder war es kurz still. Immer noch sah er ihr in die Augen.
„Seit acht Monaten..."
        Sie spürte, wie alles in ihr in tausende Scherben zerfiel. Eine Träne rann über ihre Wange, ihre Lippen begannen zu zittern. Über ein halbes Jahr schon betrügt er sie. Dabei haben sie vor kurzem noch von einer möglichen Hochzeit gesprochen. Sieben Jahre dahin, Schutt, weggeworfen.
„Weißt du was, Leonard? Du bist das größte Arschloch, was mir je untergekommen ist."
        Plötzlich war ihre Stimme ziemlich ruhig. Sie stand von ihrem Platz auf dem Sofa auf und ging. Leonard sprang ebenfalls auf, hielt sie am Arm fest.
„Lass mich los. Fass mich nie wieder an, nimm deine dreckige Kette, schenk sie Daria und geh aus meinem Leben. Wir sind fertig...", ihre Stimme klang zum Ende brüchig, weitere Tränen liefen ihr über das Gesicht und verschmierten das Make-Up.
       Sie stürmt aus dem Haus, wollte nie mehr wieder zu ihm zurück.

Sie weiß nicht, wie lange sie schon so läuft. Ihr Kopf ist leer, ihr Körper schmerzt. Tränen hat sie keine mehr, sie alle sind versiegt. Wo soll sie bleiben, wo soll sie hin. Erneut vibriert ihr Handy, doch sie ignoriert es. Es ist sowieso Leonard. Doch irgendwann, als ihre letzte Kraft verschwindet, lässt sie sich auf einer eiskalten Bank an einer Bushaltestelle nieder, nimmt ihr Handy und ruft ihre Mutter an. Sie weint nicht, sie schreit nicht. Sie kann nicht mehr. Ihre Mutter wird sie holen, verspricht sie sofort, Angelina schickt ihr den Standort. Aber es wird dauern, bis sie da ist. Es ist ein weiter Weg. Langsam kriegt Angelina Angst, sie könne erfrieren.
„Junge Dame? Was machen Sie hier draußen in der Kälte?", fragt da plötzlich die Stimme eines älteren Mannes neben ihr.
        Sie dreht sich um, dort steht ein Wirtsmann mit Schürze vor ihr. Er schaut in ihr verweintes Gesicht.
„Oh weh, Weihnachten ohne Happy End, was? Kommen Sie doch mit rein, mein Gasthaus hat zwar schon zu, aber das macht nichts. Meine Frau und ich können sicher was für Sie tun und Sie aufwärmen."
         Der nette Wirt streckt die Hand nach ihr aus. Sie schaut ihn kurz an, dann nimmt sie seine Hand dankbar an und geht mit ihm ins Warme.

         

It's Christmas Time || Adventskalender 2022Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt