Türchen 21

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Es sind nur noch drei Tage, es sind nur noch zweiundsiebzig Stunden, dann ist Weihnachten. Alle Wunschzettel sind geschrieben und abgeschickt, die Essensplanungen nahezu abgeschlossen. In den Supermärkten drängen sich die Menschen durch die Gänge, um noch die letzten Artikel zu ergattern. Gibt es noch ein Glas Rotkohl? Der Apfel für die Weihnachtsgans fehlt doch noch! Hoffentlich hat am Samstag der Metzger noch auf, frische Würstchen müssen es zum hausgemachten Kartoffelsalat sein. Man könnte den Eindruck bekommen, so gefüllt wie die Einkaufswagen sind, gibt es nach den Feiertagen nichts mehr zu kaufen. Wie soll das denn erst am 23. aussehen?

Aber es gibt auch immer Menschen, die vieles nur zum Teil oder gar nicht erledigt haben. Es mag vielerlei Gründe dafür geben. Diese Geschichte geht um Ming, die junge Mutter hat das ganz große Los gezogen. Sie hat noch nicht alle Geschenke beisammen, eingepackt sind sie sowieso noch nicht. Der Essensplan für die Feiertage steht nur so halbwegs. Aber die Zeit drängt.

„Okay, können wir jetzt mal bitte alle an einem Strang ziehen? Ich weiß, es ist alles stressig, aber ich muss jetzt wissen, was wir Essen wollen."

„Am ersten Weihnachtstag wolltest du doch...", fängt ihr Mann Diego an, aber Ming unterbricht ihn sofort.

„Ja, da mache ich den veganen Braten. Dafür müsste ich auch schon alles haben, es geht mir jetzt aber um Heiligabend und den zweiten Weihnachtstag."

Lio, ihr älterer Sohn, puhlt an der Tischkante rum und starrt darauf, als hätte er seiner Mutter gar nicht zugehört. Dan, der jüngere Sohn, scheint tatsächlich zu überlegen.

„Bei meinem Freund Freddy gibt es Würstchen!"

„Ich bin nur leider nicht gut darin, Kartoffelsalat zu machen und der Gekaufte schmeckt furchtbar. Tut mir leid, mein Schatz, daraus wird nichts. Aber ich setze die veganen Wiener als Alternative auf meine Liste, ja?"

„Ich habe jetzt wirklich keine Ahnung, kannst du mich das später fragen? Wir haben doch grade erst gegessen", meint Diego und will schon vom Tisch aufstehen.

„Hinsetzen. Wir klären das jetzt."

Es dauert lange, bis sie sich endlich einigen können. Nichtsdestotrotz muss Ming jetzt schon mal das Wichtigste einkaufen. Am Freitag hat sie einfach keine mehr dazu, einen Großeinkauf zu starten. Am liebsten würde sie alleine fahren, das geht am schnellsten. Aber Dan will unbedingt mit und ihr helfen.

„Schau mal, mein Schatz, wenn du hier bleibst, kannst du spielen oder dir ein Hörbuch anhören."

„Ich will aber mit Mama!", brüllt der grade erst Fünfjährige.

Also kommt Ming nicht los, sondern muss erst einmal diesen Wutanfall begleiten und dem Jungen immer und immer wieder erklären, warum es jetzt besser ist, wenn die Mama alleine fährt und verspricht ihm hoch und heilig, dass er beim nächsten Einkauf wieder mitkommen darf. Kinder, ein Segen. Lio gibt seiner Mutter den fertigen Einkaufszettel, er hat noch ein paar Dinge ergänzt, die Ming in Gedanken sofort wieder streicht. Sie haben schon genug Weihnachtssüßigkeiten.

Immerhin wurde zu seiner Zufriedenheit Raclette mit auf die Liste genommen, denn sonst wäre der vorpubertierende Neunjährige vermutlich ziemlich sauer gewesen. Schlechte Laune am Weihnachtsabend möchte niemand.

Ming erlebt beim Einkaufen das blanke Chaos. Die Menschen sind jetzt schon völlig aus dem Häuschen und viele Regale leergefegt. Systematisch versucht sie, alle Artikel zu erlangen und dabei nicht die Krise zu kriegen. Nicht mal, als ein älterer Herr ihr in die Hacken fährt und sich dann auch noch beschwert. Einatmen. Ausatmen. Der Vorteil daran, vegan zu sein, liegt an Weihnachten daran, dass vieles noch erhältlich ist. Was ein Glück. Trotzdem kann sie das frische Gemüse erst am Freitag kaufen. Seufzend nimmt sie den bevorstehenden Kampf hin.

Während ihrer Abwesenheit soll Diego anfangen, die Geschenke einzupacken. Aber Dan möchte jetzt unbedingt mit ihm spielen. Nein malen. Nein ein Buch vorlesen. Der Junge kann sich gar nicht entscheiden, was er tun möchte und alles langweilt ihn. Er war die letzten Tage wegen einer fiebrigen Erkältung zu Hause geblieben, heute ist er wieder fit wie ein Turnschuh und fordert Action. Diego kommt gar nicht hinterher. Gleichzeitig muss er auf Lio achten, der seine Medienzeit nicht überziehen soll. Irgendwann wird Dans Gerenne durch das ganze Haus für Lio zu nervig und er schreit seinen Bruder an, er solle sich jetzt endlich mal hinsetzen und spielen. Daraufhin fängt Dan an zu weinen.

„So Lio, Schluss mit der Switch für heute", entscheidet Diego daraufhin konsequent.

„Warum? Dan rennt hier durchs Haus!", beschwert der Ältere sich bockig.

„Dan weint jetzt aber, weil du ihn angeschrien hast. Mach dich lieber nützlich, deine Mutter kommt grade wieder und du kannst die Einkäufe reintragen."

„Jaja", brummt der Junge und tritt beim Rausgehen noch leicht gegen die Tür.

Diegos hinterhergerufenes „Das hab ich gesehen, Freundchen!" ignoriert der Junge gekonnt.

Erst musste Diego den Kleinen trösten, dann auch noch Ming. Dabei wollte sie eigentlich mit dem Geschenke einpacken anfangen. Das macht ihr Mann jetzt, nachdem dieser noch einmal mit Lio gesprochen hat. Lio hat sich bei Dan entschuldigt, die darauffolgende Umarmung fand er trotzdem eher uncool.

„Mama, ich hab Hunger", durchbricht Dan wieder ihre Pläne.

Sie schneidet schnell einen Apfel für den Kinder und jeder bekommt ein Lebkuchen. Danach schaut sie bei Diego vorbei, der ihr sofort die Geschenkeliste unter die Nase hält.

„Fehlt da nicht noch was?"

„Ach scheiße", flucht sie leise.

Von den bestellten Geschenken sind bis auf eines – was erst nachträglich kommt – alle da, aber es sind eben nicht alle Geschenke, die sie kaufen wollte. Wann soll sie das denn noch schaffen, in die Stadt zu fahren und Geschenke zu kaufen?

„Weißt du was? Ich mache das morgen, wenn ich von der Arbeit komme. Liegt ja quasi auf dem Weg", schlägt Diego ihr vor.

„Das ist die komplett andere Richtung."

„Sag ich doch. Du hast Urlaub, Schatz. Du musstest jetzt die letzten Tage Dan hüten, der kann morgen wieder in den Kindergarten. Vielleicht haben wir ja Glück und er fängt sich nicht direkt wieder was Neues ein. Lio hat ganz normal Schule bis um eins und so lange machst du dir einen ruhigen und entspannten Vormittag. Nur für dich. Dann bist du bestimmt an Weihnachten auch nicht mehr so gestresst. Abgemacht?", fragt Diego und gibt ihr einen Kuss auf die Schläfe, ehe er sie in den Arm nimmt.

Ming ist mehr als dankbar dafür und genießt einen Augenblick den Moment, bevor wieder einer „Mama!" schreit. 

It's Christmas Time || Adventskalender 2022Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt