Türchen 9

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Alles glitzert und funkelt, die Menschen tummeln sich durch die künstlich gebauten Gassen. An dem einen Ende ZOB und Bahnhof, aus denen immer mehr Menschen strömen, am anderen das große Einkaufszentrum. Kleine hölzerne Hütten dienen auf dem Weihnachtsmarkt als Stände, an denen Glühwein, süße Leckereien, Herzhaftes und selbstgemachte Waren verkauft werden. Auf der Eisbahn laufen Kinder und Jugendliche um die Wette. Dazwischen versuchen zwei kleine Zwerge mithilfe von Pinguinen und ihren Eltern das Schlittschuhlaufen zu lernen.
„Hach das ist ja alles wundervoll, mit Liebe geschnitzt", säuselt eine ältere Dame an einem Stand.
        Der Glühwein zwei Häuschen weiter geht weg wie warme Semmel, es ist der beliebteste Glühweinstand mit jahrzehntelanger Tradition. Immer wieder müssen die Verkaufenden darum bitten, dass die Becher nicht mitgenommen, sondern zurückgegeben werden. Sie sind handbemalt und damit Unikate. Das macht sie besonders beliebt zum Behalten. Nicht so wie die öden typischen Gläser aus Hütte Nummer 12 am anderen Ende. Da ist auch nicht viel los, was auch an der unsympathischen Kaugummi kauenden Studentin hinter dem Tresen liegen könnte. Verschiedene Düfte schweben in der Luft. An der einen Ecke riecht es nach Zimt und Mandeln, an der anderen nach frischen Crêpes und an einer wieder anderen nach Bratwurst und Lángos. Auf einer kleinen Bühne, welche die ansässige Bank gesponsort hat, steht ein Chor und singt die schönsten Weihnachtslieder. Einige Menschen bleiben stehen und lauschen den Klängen ihrer engelsgleichen Stimmen, manch einer von ihnen singt sogar mit.
        Trotz der Menge sind die meisten Menschen völlig entspannt. Sie schlendern, schauen, essen und trinken. Manchmal trifft man einen alten Bekannten wieder und spricht über Nichtigkeiten wie das Wetter.

Im Kaufhaus dagegen könnte man meinen, man sei in einer anderen Welt gelandet, kaum ist man durch die Türen getreten. Abgehetzte Menschen drängeln sich ihren Weg herbei, man rempelt sich an, ohne sich zu entschuldigen. Ein Mann muss seine Bahn erreichen und rennt Richtung Ausgang, dabei muss er mit der einen Hand seinen Hut festhalten und mit der anderen aufpassen, dass er mit der im Lauf wedelnden Einkaufstüte niemanden erschlägt. Irgendwo weint ein Kind, weil es doch eigentlich noch länger auf dem tollen Karussell bleiben wollte. Die Mutter hat schon langsam keinen Nerv mehr für ihren brüllenden Sohn. Dabei versteht er doch nur die Welt nicht mehr und wirft sich wütend auf den Boden.
„Geht gleich wieder", raunt sie schief guckenden Passanten zu.
           Jeder muss noch unbedingt das letzte Weihnachtsgeschenk kaufen. Weihnachten steht dann doch so plötzlich vor der Tür, sodass alles ganz schnell gehen muss. Die Mitarbeitenden in den Shops ertrinken in Stress, Kundenfragen und Reklamationen, weil es doch nicht das Richtige war.

Zwei Welten direkt nebeneinander, nur eine fünfzig Meter Straßenüberquerung und eine Tür trennen sie voneinander. Von Harmonie zu Wut, von Liebe zu Hass. Hat man sich eben noch geherzt und umarmt, reißt man demjenigen im nächsten Moment das letzte heiß begehrte Teil aus der Hand.  Egoismus übernimmt plötzlich und ungehalten, selbst Oma Erna wird zu Rambo persönlich. Aber warum? Haben all diese Leute den Sinn dahinter vergessen, worum es eigentlich geht? Dass es hier um das Fest der Liebe geht? Fünf Minuten reichen einem stillen Beobachter, um genau das zu sehen. Die Menschen vergessen von einer Sekunde auf die anderen ihre Besinnlichkeit, ihre Werte und ihre Liebe. Dabei sollte Weihnachten doch verbinden, nicht spalten.

It's Christmas Time || Adventskalender 2022Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt