11 - Der große Knall

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‚S'ist nirgends schöner als daheim' – was Dorothys Fahrkarte nach Kansas war, galt leider nicht uneingeschränkt für Yuki. Nach Steves Abreise hatte sich Maman zunehmend zurückgezogen und wortkarger geworden. Doch auf die direkte Frage, was denn zum Geier nicht in Ordnung war, bekam sie keine Antwort. Stattdessen schob sie die schlechte Stimmung, darauf, dass sie wieder unter Migräne leide, und verließ fluchtartig den Raum. Yuki wusste, dass das nur eine vorgeschobene Erklärung war. Denn sie hatte bei ihrer Mutter nichts von Mattigkeit, Heißhungerattacken und Überempfindlichkeit gemerkt, Dinge die sie sonst immer in der Frühphase eines Schubs plagten. Sie wurde angelogen oder es wurde ihr zumindest etwas verschwiegen. Wahrscheinlich in der Absicht, sie vor irgendetwas zu schützen, denn für gewöhnlich hatten ihre Eltern immer offen über alles mit ihr gesprochen.

So war Yuki ganz froh über ihre regelmäßigen Abstecher in die Stadt, wenn sie bei Dr. Wanninger vorstellig wurde, der sich jedes Mal zufriedener zeigte mit dem Heilungsprozess ihrer Verletzungen. Man merkte ihm an, dass er ihr die Geschichte von dem Treppensturz nicht abnahm, aber er war so taktvoll, nicht weiter zu bohren. Wäre Furys Anweisung zur Geheimhaltung nicht gewesen, Yuki hätte nichts dagegen gehabt, ihn einzuweihen, war er doch seit sie denken konnte der Arzt, dem die Familie vertraute. Inzwischen war er so alt, dass er schon lange hätte in Pension gehen können. Stattdessen hielt er immer noch an drei Tagen in der Woche Sprechstunden ab, weil er nicht rasten wollte, um später festzustellen, dass er zudem auch noch rostete, wie er Yuki einmal anvertraut hatte.

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Auch heute nickte er beifällig, während er ihre Rippen abtastete und ihre Prellungen an Gesicht und Brustkorb betrachtete, die langsam von einem dunklen Purpur in ein schillerndes Grün und Gelb übergegangen waren. Er stellte noch ein Rezept für Schmerztabletten aus und verabschiedete sich, jedoch nicht ohne einen letzten medizinischen Rat: „Sie sollten nun eigentlich ohne Schmerzmittel auskommen, die sind nur noch dafür, wenn es doch wieder kurzfristig akut wird. Machen Sie es gut und meiden Sie in nächster Zeit die Kellertreppe." Er sah sie ernst an, gab ihr jedoch ohne ein weiteres Wort die Hand, als sie lapidar entgegnete, sie werde sich die größte Mühe geben.

Vor der Tür holte sich tief Luft, was ihr Brustkorb nur noch mit einem leichten Ziepen quittierte, machte sich auf den Weg in die Innenstadt und versuchte, die zwei Agenten zu ignorieren, die ihr auffällig unauffällig folgten. Zwei weitere hielten zu Hause die Stellung. Aber da wollte sie heute so schnell nicht wieder zurück. Sie würde sich ein Eis gönnen und einen kleinen Stadtbummel machen, das hatte sie schon lange nicht mehr getan.

Sie hatte sich gerade wenige Minuten an einen Tisch des La Fontana gesetzt und wartete auf die Bedienung, da klingelte ihr Handy. Maman, sie seufzte und widerstand der Verlockung, den Anruf wegzudrücken, obwohl sie überhaupt keine Lust hatte auf ein schwieriges Gespräch, das unweigerlich folgen würde. Sie hatte am Morgen nämlich das Ende eines Gesprächs mitangehört, das ihre Mutter geführt hatte, in dem Glauben Yuki würde noch schlafen. „... habe lange genug gewartet! ... Jean, entweder du kommst heute nach Hause und wir ziehen das zusammen durch, oder ich erzähle es ihr heute, ob du willst oder nicht." Und mit einem erstickten „Fein!" war der Hörer auf der Gabel gelandet.

Nach dem vierten Klingeln nahm Yuki den Anruf an. „Ja, Maman?"

„Schätzchen, wann kommst du heim? Papa ist in einer halben Stunde da und wir haben dir etwas sehr Wichtiges zu sagen."

„Ach, das kann noch dauern, das Wartezimmer ist voll und ich muss bestimmt noch eine Stunde warten, wenn nicht noch mehr." Yuki staunte, wie glatt ihr die Lüge über die Lippen kam. Sie hatte sogar das Mikrofon abgedeckt, dass die Umgebungsgeräusche aus der Eisdiele gedämpft wurden.

Was auch immer es war, das ihre Eltern besprechen wollten, es konnte sicher noch ein paar Stunden warten. Denn wenn sie sich anstrengte und ihre zwei Schatten ausblendete, die sich zwei Tische weiter herumdrückten, konnte das noch ein schöner, fauler Nachmittag werden, ganz so wie sie sie als Teenager verbracht hatte. Nur dass sie heute nicht mit Freundinnen abhing.

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