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Die Böden mit der jeweiligen Füllung und Ganache kühlen im begehbaren Kühlschrank aus, während ich auf meinem Bett sitze und in meinem Collegeblock mithilfe der Stichworte, die ich mir aufgeschrieben habe, die perfekte Dekoration skizziere.

In meinem Kopf habe ich mir das wirklich komplizierter vorgestellt, als es eigentlich ist, aber ich muss am besten schon um vier Uhr morgen früh auf den Beinen sein, damit auch alles frisch ist.

Dadurch, dass ich durch meine Kopfhörer laut Musik höre, bekomme ich erst nach einigen Malen das laute Klopfen an meiner Tür mit. Verwirrt nehme ich meine Kopfhörer aus den Ohren und steige von meinem Bett.

Als ich die Tür öffne, steht niemand geringeres als Harry vor mir, der mich unsicher lächelnd ansieht.

»Hey«, sagt er und kratzt sich verlegen am Hinterkopf.

Plötzlich spielt sich vor meinem inneren Auge der ganze gestrige Abend wieder ab.

»Hey«, hauche ich, »kann ich dir helfen?«

»Bist du sehr beschäftigt?«

Ich werfe einen beklommenen Blick über meine Schulter auf mein von rausgerissenen Blättern übersätes Bett, dann sehe ich wieder zu ihm. »Kommt drauf an. Was ist denn?«

»Ich wollte dich fragen, ob du ein bisschen spazieren gehen magst. Die Luft ist gerade so schön und ich brauche die Gesellschaft.«

Mein Herz zittert bei seinen Worten. Er will meine Gesellschaft.

»Ja sicher. Gib mir einen Moment.«

Ich schlage die Tür vor seiner Nase zu und springe erstmal still kreischend auf und ab und raufe mir die Haare.

Louis, reiß dich zusammen, er ist nur ein Mensch.

Aber trotzdem! Er ist ein perfekter Mensch!

Ich atme tief durch. Ich ziehe mir Schuhe, Beanie und Jacke an und öffne dann die Tür, wo er tatsächlich immer noch vorsteht.

Wir schleichen uns aus dem Schloss und finden uns dann im Garten wieder, der nur von ein paar flackernden Laternen erhellt wird.

»Ich wollte eigentlich ausreiten, aber nachdem was gestern passiert ist, erschien mir ein Spaziergang doch als die sicherere Wahl.«

Ich muss kichern. »Ja, ich habe es nicht so mit Pferden, wie man unschwer erkennen kann.«

»Dafür gibt es andere Sachen, die du gut kannst. Apropos, wie geht es mit der Torte voran?«

Natürlich muss ausgerechnet diese Frage jetzt kommen.

»Gut«, sage ich, »ja, es läuft ganz gut.«

Es herrscht ein kurzes unangenehmes Schweigen, welches er dann aber wieder bricht: »Louis, nach unserem Gespräch gestern ist mir ein bisschen was klar geworden...«

Oh oh.

»Was denn?«

»Du weißt so viel über mich, so viel mehr als andere Menschen wissen. Und ich weiß gefühlt gar nichts über dich. Ich würde gerne mehr über dich erfahren.«

Ich hätte es kommen sehen müssen.

»Ist das der Grund, wieso du mit mir spazieren gehen willst?«

Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht?«

Ich muss lächeln. »Also gut, naja, über mich gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin Pâtissier, das ist so das Highlight meines Lebens.«

»Ich traue mich kaum es anzusprechen, aber du hast gestern von deinen Eltern gesprochen«, beginnt er vorsichtig und trifft damit einen ziemlich wunden Punkt, »erzähl mir von ihnen.«

Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen und ich presse meine Lippen aufeinander, habe das Gefühl, dass ich bei jedem Wort, das ich gleich spreche, in Tränen ausbrechen könnte.

Dabei ist es doch schon so lange her.

»Maman war Pâtissière«, beginne ich, »ja und Papa war Chocolatier. Sie haben sich als Jugendliche bei einer Backshow kennengelernt und waren seither unzertrennlich. Ich bin so gesehen in der Backstube aufgewachsen. Ich habe wahrscheinlich mehr Backpulver und Puderzucker als Sauerstoff geatmet. Von Maman habe ich gelernt Macarons zu machen.«

Ich habe das Bild von ihr und mir, als kleinen Jungen, richtig vor Augen und muss mit den Tränen kämpfen.

»Sie ist der Grund, wieso ich überhaupt hier bin, kann man so sagen«, ergänze ich, »sie hat mich in die Welt der Küchlein und Kekse integriert. Eigentlich hatte ich gedacht, sie würden meine Erfolge noch miterleben...zumindest habe ich mir das immer gewünscht.«

Ich bin selbst von mir überrascht, wie viel ich Harry eigentlich erzähle. Aber es tut gut. Er hört zu.

Er unterbricht mich nicht, stellt keine Fragen, macht keine Kommentare, sondern gibt mir einfach mit seiner Anwesenheit zu verstehen, dass jemand da ist, der mir wirklich zuhört und sich dafür interessiert, was ich erzähle.

Und dieses Gefühl ist mehr wert als alles andere.

»Ich war fünfzehn als sie gestorben sind. Ich habe es live im Fernsehen gesehen. Es war bei einer ihrer Backshows. Etwas stimmte mit dem Ofen nicht und ja, dann kam eins zum anderen. Ich habe lange gebraucht wieder die Schürze umzubinden, doch dann kam meine Großmutter und hat mich überredet mit ihr Opas Patisserie zu übernehmen. Zunächst habe ich nur als Aushilfe gearbeitet, neben der Schule, habe es dann aber zu meinem Hauptberuf gemacht und die Patisserie übernommen. Ja, und während Oma Karriere auf Schiffen und in noblen Restaurants gemacht hat, habe ich mir ein Image an der Champs-Élysée aufgebaut.«

»Und jetzt bist du hier«, sagt er grinsend, »du hast es weit geschafft.«

»Ja, scheint so.«

»Ich bin mir sicher, deine Eltern sind stolz auf dich. Wie du gesagt hast, sie sind immer da, du siehst sie nur nicht immer«, sagt er und bleibt plötzlich stehen.

Er legt seinen Kopf in den Nacken und schaut in den sternenklaren Himmel, von dem immer mehr Schneeflocken herunterfallen.

»Man könnte meinen, sie sind wie Sterne«, sagt er, »immer da, aber nicht immer zu sehen...oder Schneeflocken.«

Ich muss schmunzeln und schaue ebenfalls in den Himmel. »Ja, sie sind wie Schneeflocken.«

Ich realisiere gar nicht, wie nahe wir uns eigentlich stehen, bis wir beide unsere Köpfe wieder richten und uns plötzlich doch näher sind, als erwartet.

Ich spüre seinen warmen Atem auf meinen Lippen und alles in mir kribbelt und zieht sich zusammen, und die Schmetterlinge flattern wie verrückt.

Diese perfekten, rosa Lippen schimmern in diesem warmen Licht der Laternen so wunderschön verlockend.

Ich will sie spüren. Ich will sie schmecken.

Plötzlich kichert er.

»Was ist?«, frage ich verwirrt.

Er hebt seine Hand und streicht mir durch die Haare, die vorne unter meiner roten Beanie noch hervorlugen.

»Du hast noch Puderzucker in den Haaren«, sagt er leise, was schon an flüstern grenzt.

Ich muss lächeln und plötzlich gleitet seine Hand runter zu meiner Wange, und auch, wenn er Handschuhe trägt, spüre ich die Wärme, die von seiner Haut ausgeht.

»Du bist wunderschön«, haucht er.

Meine Antwort darauf war, meine Lippen auf seine zu drücken und ihn zu küssen, als hätte ich nie etwas Anderes tun wollen.

Mit genauso einer Leidenschaft erwidert er diesen innigen Kuss, der so sanft und liebevoll ist, aber doch voller Begierde steckt.

Und zwischen uns entfacht ein Feuer, dessen Funken wir schon lange gespürt haben. 

My Christmas Prince [l.s.] ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt