von vermeintlichen Entführungen

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,,Du hast da noch etwas Sauce an den Lippen", schmunzelt Kade und fixiert mit seinem warmen Blick die Stelle in meinem Gesicht, die ich nun mit der weißen Papierserviette abtupfe.

Verlegen sehe ich ihm wieder in die Augen, versuche mich an irgendein Gesprächsthema zu erinnern, das wir noch gar nicht oder noch nicht zur Genüge besprochen haben.
Irgendetwas, dass diese peinliche Stille zwischen uns beendet.

,,Kein Grund rot zu werden, Rayn", lächelt er nun und steht auf, um sich auf den Weg zu den Toiletten zu machen.

Er scheint bemerkt zu haben, dass ich kurz Zeit für mich brauche.
Zeit, um über all das hier nachzudenken.
Was das hier werden soll. Mit uns.

Ich freue mich unendlich, Kade wiedergetroffen zu haben, aber der Abschied scheint immer näher zu rücken und das macht mich nervös.

Sollten wir unsere Treffen von nun an immer vom Schicksal entscheiden lassen?
Oder sollten wir es selbst in die Hand nehmen?

Ich hoffe inständig, dass er sich auch darüber Gedanken macht.
Entscheidungen zu treffen war nie meine Stärke.

Einige Minuten sind vergangen, als Kade sich wieder vor mich hinstellt und meine Gesichtszüge mustert.

,,Also, Rayn. Darf ich dir eine Frage stellen?"

,,Immer", antworte ich neugierig.

,,Wie viele Sonnenaufgänge hast du schon gesehen?"

,,Hunderte wahrscheinlich. Als Kind hatte ich ein Zimmer im Dachboden mit perfektem Blick auf den Sonnenaufgang. Ich hab ihn mir beinahe jeden Tag angesehen."

,,Und wie viele Sonnenuntergänge hast du schon gesehen?"

,,Nicht viele. Ich fand den Gedanken an einen neuen Tag voller Möglichkeiten immer schöner, als an einen Tag voller neuer Erinnerungen, der endet."

,,Darf ich dich entführen?"

,,Tust du das nicht schon den ganzen Tag?"

Leicht heben sich seine Mundwinkel, ehe er sich seinen Mantel überstreift und sich einige Schritte von mir entfernt.

Und ich folge ihm.

memento moriWo Geschichten leben. Entdecke jetzt