Verdammt. Sie war so dankbar, es war kaum in Worte zu fassen. Während die meisten Studenten sich hier auf einen neuen Lebensabschnitt freuten, war Sawyer einfach nur froh, den alten beenden zu können. Und doch wog das schlechte Gewissen mit jedem Schritt, den sie tat, schwerer. Sie musste aufpassen, dass sie nicht lebendig darunter begraben wurde. Vier ganze Wochen ging das jetzt schon so.
Dabei brauchte sie kein schlechtes Gewissen zu haben. John hatte es ihr ausdrücklich erlaubt. Auch, wenn durch ihren Umzug ihr Beitrag zum Familieneinkommen wegfallen würde und es für ihn und ihre Eltern umso härter sein würde, alle Kosten zu stemmen und das College für ihn im nächsten Jahr zu bezahlen.
Aber er hatte es nicht nur erlaubt - sie brauchte schließlich nicht wirklich eine Erlaubnis - sondern er hatte sie vielmehr bei den Schultern gegriffen, ihr in die Augen gesehen bis sie selbst den Blick nicht mehr abwenden konnte und hatte auf sie eingeredet. Eindringlichst. Es war sein letztes Jahr an der Highschool. Er käme klar. Und wenn nicht, nun, dann würden sie schon einen Weg finden.
Und sie konnte nichts anderes tun als darauf zu vertrauen, wenn sie sich und ihren eigenen Träumen nicht im Weg stehen wollte.Sawyer atmete noch einmal tief durch und betrat dann das antik anmutende Gebäude der Henderson State University. Wohin das Auge blickte, sah sie beste Freunde und Pärchen. Es war beinahe schon deprimierend. Sie war ganz bestimmt keine introvertierte Persönlichkeit, aber aufgrund ihres eher ärmlichen Elternhauses hatte sie es stets vermieden, Freunde mit nach Hause zu bringen. Das wiederum hatte bei einigen Mädels ihres Jahrgangs Fragen und Unsicherheiten aufkommen lassen, die für Sawyer nicht zu überwinden waren - denn sie wollte nicht darüber reden. Diese Verschwiegenheit zog sich durch wie ein roter Faden und sorgte dafür, dass ihr so manche Tür verschlossen blieb, die sich anderen nur zu schnell öffnete.
Wenn sie also an ihre Highschoolzeit zurück dachte, gab es dort keine Pyjamapartys, keine ausschweifenden Geburtstagsfeiern und kein einziges Date.
Ehrlich gesagt, konnte sie sich nicht Mal daran erinnern, jemals einen richtigen echten Schwarm gehabt zu haben. Mit all diesen Gefühlen, über die sie gelegentlich las. Schweißausbrüche beim bloßen Anblick, hilfloses Stottern vor Aufregung.
Vielleicht war sie asexuell. Nicht, dass sie darauf hoffte. Eigentlich war sie sich sicher, dass es ganz nett sein könnte, jemanden auf körperlicher Ebene kennenzulernen. Und in ihrer Vorstellung war das ein junger Mann.
Er würde echt klug sein. Und ein umwerfendes Lächeln haben. Naja, und vielleicht das, was die ganzen Influencerinnen einen Dad Bod nannten, denn sie selbst war mit ihrer kleinen Oberweite, den breiten Hüften und dem flachen Hintern auch nicht gerade ein Model.Der Charakter war ja auch viel wichtiger. Aber wenn sie ihrem Traummann einen Körper geben musste wäre es ein süßer, blonder Kerl. Halblanges, sonnengebleichtes Haar. Eindeutig Typ Surfer.
Uhh, sie spürte wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Zu blöd, dass ihr dieses Gefühl nie gegenüber einem Kerl kam, sondern nur bei den rein hypothetischen Gedanken an irgendwen.
Sie sah sich um und stellte fest, dass niemand auf sie achtete. Also genoss sie die Freiheit, die Geschichte in ihrem Kopf weiterspinnen zu können.
Charakter. Das war das, worauf es ankam. Er musste großherzig sein. Und ein bisschen lustig. Und er musste seine Familie wirklich lieben. Es war keine Grundvoraussetzung, dass er darauf erpicht war, sofort seine eigene Familie gründen zu wollen, sie wollte nur sicher sein, dass er in der Lage war zu lieben - also war ein bestimmtes Maß an Liebe und Respekt für seine Familie ein Muss.
Und sehr wahrscheinlich schloss das die meisten Kerle hier aus. Was für eine Schande. Denn für ihre Augen war hier, weit von der Küste Kaliforniens doch einiges dabei. Jetzt musste nur noch der Blitz einschlagen.
Nicht wortwörtlich natürlich. Ob sie sich in Therapie begeben sollte, wenn sie auch nach den kommenden vier Jahren niemandem begegnet sein würde, der ihr Herz höher schlagen ließ? Vielleicht hatte ihre Familie doch größere Schäden bei ihr hinterlassen als gedacht.
Sawyer spürte, wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Das mit der Therapie war ja eine gute Idee. Vielleicht konnte sie sich bis dahin selbst therapieren. Welchen Beruf sie am Ende auch ergreifen würde, es würde einer sein, der zum Wohle der Gesellschaft beitrug.
Sie konnte sich nicht vorstellen, in einer Institution zu enden, in der es nur darum ging, Geld von der linken in die rechte Tasche zu schieben und maximale Profite für die Chefetage einzufahren. Nein, sie wollte unbedingt ihren Beitrag dazu tun, dass die Welt ein besserer Ort wurde. Nun musste sie ihre Zeit hier in Henderson State nur dazu nutzen herauszufinden, wie sie das am besten anstellte.
Und heute machte einen guten Anfang. Das Semester hatte bereits vor einigen Wochen begonnen und Psychologie als Hauptfach schien erstmal ein Schritt in die richtige Richtung zu sein, aber nun war es an der Zeit, sich für die Schlüsselqualifikationen einzutragen.
Das waren die Vorlesungen, die sie fachlich nicht voranbringen, dafür aber ihre Soft Skills und persönlichen Kompetenzen stärken sollten. Da Sawyer sich aber noch keine Meinung dazu gebildet hatte, was ihr nützlich sein könnte, würde sie sich einfach für etwas eintragen, das sie spannend fand. Aus diesem Grund befand sie sich genau jetzt auf dem Weg zu dem Raum, in dem die Einschreibungen für die Schlüsselqualifikation Kreatives Schreiben stattfand.
Sie fand den Raum und setzte ihren Namen auf die fast volle Liste. Genau eine Zeile war noch frei. Zufrieden grinste Sawyer. Sie hätte wenig Lust gehabt, sich für einen anderen Kurs entscheiden zu müssen. Gerade als sie den Raum verlassen und den Ausgang des Gebäudes ansteuern wollte, fiel ihr das schwarze Brett am anderen Ende des Ganges auf.
'A JOB IS A JOB' stand in großen Buchstaben ganz oben. 'Studentenjobs' stand etwas kleiner darunter. Genau, was sie brauchte. Ihre Ersparnisse wurden langsam knapp und sie musste dringend anfangen, ihre Kasse wieder zu befüllen. Das Herumschleichen in der Stadt hatte nicht viel gebracht. Sämtliche Cafés, Bars und Lieferdienste hatten bereits ihre Aushilfen gefunden. Also musste sie nun auf anderem Weg einen Job finden.
Und es hingen tatsächlich unzählige Zettel an dem Brett. Das war ja durchaus vielversprechend. Freudig versuchte Sawyer bereits die ersten Aushänge zu entziffern, während sie noch auf sie zuging. Doch plötzlich stieß sie mit jemandem zusammen.
Erschrocken riss sie die Augen auf, als zwei Hände ihre Arme umfassten, um sie vor dem Fallen zu bewahren. Der Typ war locker einen ganzen Kopf größer als sie und nicht Mal annähernd ins Wanken geraten. Sie starrte einen Moment in sein absolut perfektes Gesicht.
Markante Wangenknochen, Dreitagebart, dunkelblaue Augen. Kurzes, dunkles Haar auf seinem Kopf. Im Gesamtbild nahezu widerliche Perfektion."Bisschen aufpassen", sagte der Kerl leise und verschwand.
Sawyer sah ihm hinterher und spürte das erste Mal in ihrem Leben ein Kribbeln im Bauch, das sich in Windeseile in ihrem ganzen Körper ausbreitete.
Und im nächsten Augenblick bereits eine rasant wachsende Leere, nun da dieser Typ sich von ihr entfernte.
Albern, schalt sie sich selbst und wandte sich der Jobbörse zu. Doch jetzt fiel es ihr unbeschreiblich schwer, sich auf die Aushänge zu konzentrieren. Als sie merkte, dass das Kribbeln zurück kehrte, gab sie nach und blickte über ihre Schulter. Dem Bogen nach zu urteilen, den er lief, hatte der Kerl gerade einen Raum verlassen und ging nun mit großen Schritten den Gang herunter Richtung Ausgang.
Und mit Sawyer sahen ihm ungefähr die Hälfte aller Mädchen auf dem Gang mehr oder weniger unauffällig nach. Peinlich.
Frustriert mit sich selbst wandte sie sich abermals dem Brett zu und zwang sich, mindestens drei, besser noch vier oder fünf Jobs in die engere Auswahl zu nehmen und sich die Kontaktdaten zu notieren.
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MIStaken - Sawyer und Maxwell °abgeschlossen°
Chick-LitAls Sawyer des Studiums wegen in eine neue Stadt zieht, muss sie sich mit beschissenen Aushilfsjobs über Wasser halten. Außerdem braucht sie eine Bleibe, besser jetzt als gleich, und die Gegend klingt echt gut. Aber der Mitbewohner lässt ganz schön...