#9 'Ruinen' (Kurzgeschichte)

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So war ich also zurückgekehrt. Zurück in die Ruinen, die in mir dieses widersinnige Gefühl von Heimat und Fremde, von Schwarz und Weiß, erweckten. Inzwischen jener steinerner Geröllhaufen, angespült aus dem Fluss der Zeit, wanderte ich rastlos meines Weges, welcher kein Ziel kannte. Fraglos führte mich der unsichtbare Pfad in einen letzten Hafen, doch war mir jede Fantasie, diesen zu benennen, abhandengekommen.

Hätte ich stattdessen doch nur die Geister abgeschüttelt, die mich hier umkreisten und peinigten. So kam es jedenfalls, dass sich jene umherspukenden Gedankenfragmente inmitten verwitterter Torbögen und Steinsäulen, die sich in Richtung des ewigen Schwarz des Himmels empor schraubten, manifestierten. Sie formten sich zu alten Bildern und erweckten zugleich die moosbedeckten Marmorstatuen zum Leben, welche prompt von ihren steinernen Sockeln stiegen, um ihr groteskes Bühnenstück aufzuführen.

Zu gerne hätte ich meinen Blick von dem Schauspiel abgewendet, doch musste ich unweigerlich sehen. Dafür sorgten die Ruinen in ihrer eigenen Gnadenlosigkeit. So schrumpfte ich langsam zusammen, zu dem kleinen Mädchen, das ich einst gewesen und sah völlig unerwartet in die treuen, gelben Augen meines lieben schwarzen Katers, wie er da vor mir auf diesem riesigen Metalltisch lag und seinen letzten Atemzug tat. Ich hatte die Spritze dereinst nicht aufhalten können und schaffte es auch dieses Mal nicht. Winzig klein, hilf- und tatenlos stand ich nur daneben und ließ alles geschehen. Eine kleine Ewigkeit war seit jenem traurigen Tag verstrichen, doch Zeit spielte in den Ruinen keine Rolle.

Man zeigte mir das Bild eines Jungen, der einst in meinem Leben verweilte. Seine plötzliche Präsenz brachte Schmetterlinge zurück, die wild mit ihren Flügeln schlugen.

„Ich liebe dich", flüsterte mir der Junge zu.

Ich hingegen erinnerte mich. Die Schmetterlinge verwandelten sich in Raupen zurück, die sich fortan durch meine Eingeweide fraßen und in dem Paradies, in welchem ich lebte, brach zum ersten Mal die Nacht herein. Als der Junge, dessen Name im Fluss der Zeit ertrunken war, aus meinem Leben trat und damit meine unsichtbaren Marionettenfäden fallen ließ, verleibte er sich ein anderes Mädchen ein. Der Schmerz war bereits damals, bei jenem ersten Male, ein Dolch gewesen. Hier, in den Ruinen, stach er zum hundertsten Mal in mein blutendes Herz.

Ich mochte nicht mehr sehen, nicht mehr fühlen, doch die nächste Szene, die sich mir zeigte, brachte wahre Pein. Das Antlitz meiner geliebten Großmutter. Sie war schon lange von uns gegangen, doch auch von diesem Schmerz hatte ich mich nie befreien, ihn nur tief in mir verschließen können. Diese dritte Wunde - sie zerriss mir mein Herz.

Als es mir endlich gelang, den Ruinen zu entfliehen und in mein Bett zurückzukehren, weinte ich noch einige Minuten lang. Sodann jedoch, sah ich endlich wieder klar. Einstige Worte meiner Großmutter hallten in meinem Kopf: „Trauer kann nur dort erwachsen, wo zuvor die Saat des reinen Glückes ausgeworfen wurde. Die Tränen, die wir für die Toten und Verlorenen vergießen, sorgen dafür, dass unser erlebtes Glück niemals verwelkt."

Trotz des Schmerzes lächelte ich also und bewahrte meine feuchten Äuglein.

Ohne sie wären schließlich die Ruinen meine Realität. 

Shorties - Kurzgeschichten & Co.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt