#11 'Alle meine Farben' (Kurzgeschichte)

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Die saftgrünen Blätter der Bäume durchfährt ein steifer Wind. Ihr aufgeregtes Rascheln ist ein erstes Signal, welches so manchem, in seiner Schlichtheit, entgehen mag. Langsam aber sicher ziehen auch dunkle Wolken am meerblauen Himmel auf. Das Zeichen, das jeder versteht. Die zahlreichen, tobenden Kinder auf der verkehrsberuhigten Straße packen ihre Spielsachen zusammen und verziehen sich nach und nach in ihre Elternhäuser. Ihr Lachen und Johlen nehmen sie mit. Die Musik der Bäume und deren Kleider bildet von nun an das Klangmonopol unserer kleinen Wohnsiedlung. Ein Gewitter naht. Wir alle können es spüren, selbst wenn unsere Ohren sich verschließen wollten. Ich schließe stattdessen das Fenster und stelle es auf Kipp.

„Liest du mir eine Geschichte vor?"

Meine kleine Schwester. Nun ist sie also doch wach, sitzt aufrecht in ihrem Bett und schaut mich aus ihren funkelnden, hellblauen Augen an. Ihre Haare wirken, durch den Schlaf, wie eine ungebändigte, rote Löwenmähne, passend zu ihrem pinkfarbenen Pyjama, den sie doch so gerne trägt. Im Normalfall wäre sie ebenfalls draußen bei den anderen Kindern gewesen, doch eine ausgeprägte Angina ist nun mal nicht besagter Normalfall.

„Wie soll ich dir das ausschlagen, wenn du mich anschaust wie ein Löwenbaby?", antworte ich ihr. Sie lacht. Ich lache.

Ihr großes Bücherregal aus saphirblau eingefärbtem Eichenholz, beklebt mit bunten Stickern und selbstgemalten Bildern, ist eine Aneinanderreihung bunter Buchrücken, dicht an dicht, sodass nirgendwo auch nur ein Fingerbreit dazwischen passen könnte.

„An welche Geschichte hast du denn gedacht?"

„An keine bestimmte. Such dir doch einfach eine aus, die du auch magst, Schwesterherz."

Mit meinen Fingerspitzen fahre ich langsam über die einzelnen Buchrücken. In Gedanken lese ich dabei laut die einzelnen Titel vor. Nicht alle sind mir geläufig. Beim Namen ‚J. M. Barrie' halte ich jedoch inne. Peter Pan. Das Buch gehörte einst mir. Ich liebte es als Kind. Daraus könnte ich ihr vorlesen. Gerade als meine Finger es aus seinem Stellplatz hervorziehen wollen, meldet sich diese vertraute, mahnende Stimme in meinem Kopf zu Wort.

J.M. Barrie - Peter Pan?

Das ist doch nicht mehr zeitgemäß. Wendy etwa. Sie ist keine starke Frau, sondern ein mausgrauses Hausmütterchen. Sie näht Peter seinen Schatten an, bemuttert die verlorenen Jungen, indem sie strickt und kocht und wäscht und zwischendurch den Love-Interest abgibt. Gäbe es da nicht noch Glöckchen und Tiger-Lily wäre sie gar die einzige weibliche Person in der toxisch-männlich dominierten Geschichte. Stichwort: Tiger-Lily – von der rassistischen Darstellung der Ureinwohner Nimmerlands, derer sich Barrie anmaßt, will ich gar nicht erst anfangen.

Langsam schiebe ich ‚Peter Pan' an seinen Platz zurück. Regentropfen prasseln bereits sanft gegen die Fensterscheibe. Es ist ein wenig dunkler geworden. Der Wind, der sich durch die Spalten des gekippten Fensters in das Kinderzimmer schleicht, verbreitet den frischen Duft von Regenschauer.

„Hast du dich entschieden?", will mein Schwesterchen wissen.

Nein, natürlich noch nicht. Mein Blick wandert weiter und bleibt erneut an einem, diesmal nachtblauem, Buchrücken hängen. Ah! Grimms Märchen. Ein alter, etwas in die Jahre gekommener, grün-gelber Sammelband voller wunderbarer Geschichten. Ich erinnere mich zurück an die Zeit, als ich als kleines Mädchen auf dem Schoß meiner Oma sitzen durfte und sie mir vom Rotkäppchen, dem Wolf und den sieben Geißlein sowie Schneewittchen erzählte. Doch kaum berühre ich das Buch, wird vorauseilend Warnung gesprochen.

Gebrüder Grimm – Märchen?

Mit dem vielfach propagierten Feindbild Wolf. Vermenschlicht um ihn als den perfekten Antagonisten darstellen zu können. Totschießen soll man ihn. Der Mensch regelt das Ökosystem schließlich auf seine Weise, weil er es kann. Will ich solche Botschaften heute noch vermitteln? Auch solche wie die sieben Zwerge, die alle männlich und weiß, alle heterosexuell sind? Rotkäppchen, Großmutter, Schneewittchen? Unbedarft und schwach, ohne jegliche Eigeninitiative, welche über „Haushalt" hinausgeht. Bessere Küchenmägde, die den (wen wundert's) weißen Jäger oder Prinzen brauchen, um gerettet oder wachgeküsst zu werden. 

Zitternd ziehe ich ruckartig meine Finger zurück, als hätte ich etwas Heißes angefasst. Derweil donnert und blitzt es draußen. Der Regen ist zu kleinen Fäusten verkommen, die ungehemmt gegen die Fensterscheibe klopfen und beharrlich um Einlass beten. Es wird kälter im Zimmer. Ich sollte das Fenster schließen, doch muss ich mich zuerst noch für ein Buch entscheiden:

Michael Ende – Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer?

Reproduziert unzählige rassistische Klischees und bedient sich unkritisch dem N-Wort; wieder keine starken Frauenfiguren

J.K. Rowling - Harry Potter?

Transfeindliche Autorin, deren Werke um jeden Preis boykottiert werden müssen. „For the greater good" um treffend einen ihrer Antagonisten zu zitieren.

Astrid Lindgren – Pippi Langstrumpf?

Unkritischer Kolonialismus, Rassismus, ja selbst die weibliche Hauptprotagonistin verbreitet, in ihrer naiv-dümmlichen Weltsicht, derlei abscheuliche Narrative.

Egal wohin ich auch schaue, überall lauern sie: Rassismus, toxische Männlichkeit, patriarchalische Frauenbilder gepaart mit genereller Ewiggestrigkeit. Wie gefährlich, ja wie gemein und unsensibel können Kinderbücher nur sein? Mit betrübter Miene drehe ich mich zu dem Bett meiner kleinen Schwester um. Erleichtert fällt mir ein Stein vom Herzen. Sie ist wieder eingeschlafen. Auf Zehenspitzen schleiche ich zum Fenster, um dieses zu schließen und muss verdutzt erkennen, dass das Gewitter schon wieder vorübergezogen ist. Ein Regenbogen spannt sich indes über die nasse Straße. So hoch und majestätisch wie ein riesiger, farbiger Torbogen. Doch sind seine Farben allesamt grau und aschfahl, wie auch das Bücherregal meiner kleinen Schwester.

Ist gestern nurmehr heute oder bin ich nur ein schlechter Mensch?

Shorties - Kurzgeschichten & Co.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt