#10 'Der Geruch feuchten Grases' (Kurzgeschichte)

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Als der Geruch feuchten Grases in meine Nase kroch, schloss ich die Augen und konnte wieder sehen.

Die leuchtend hellen Farben von einst waren inzwischen zu einem unscheinbaren Schemen verkommen, welches sich partout weigerte zu sterben. Ich wusste das. Ich wusste es nur zu genau. War ich es doch, die der siechenden Blässe den Tod verweigerte.

Wie könnte ich sie auch sterben lassen? Wenn ich das feuchte Gras roch, kehrten das Glitzern und die Wärme zurück. Ganz gleich wie viel Glück und Freude auch den Platz in meiner Mitte für sich beanspruchten, ein winziger Fleck blieb, selbst nach all den Jahren, immerzu weiß. Hier kanalisierten sich die alten Ströme, die sich wild durch ihre Bahnen schlängelten. Weiße Würmer, die sich binnen Augenblicke in eine Armee flatternder Schmetterlinge verwandelte.

Inmitten des Schemens herrschte Sonnenschein. Auch dann wenn die Regenwolken aufzogen und den Himmel verdunkelten. Wärme lag stets in meinem Schoß. Selbst in der Nacht blieb die Kälte vor der Tür. Eine Welle trug mich davon. Ich war schlicht unbesiegbar.

„Wo du wohl heute bist? Was du wohl gerade tust? Zu gerne würde ich wissen, ob deine Haare noch immer so lang und lockig sind, wie in dieser alten, alten Erinnerung. Ob sie wohl noch immer so riechen wie einst, als der Geruch feuchten Grases in der Luft lag?"

Ich vernahm dein Lachen, still und leise und aus weiter Tiefe, derweil ein Tränchen seinen Weg fand.

„Vielleicht bist du ja auch so glücklich wie ich, lächelst und wischst dir gerade ein Äuglein trocken."

Als ich die Augen wieder öffnete, durfte ich erkennen:

Die wahre mag sie lebendig begraben haben, doch die erste Liebe – sie stirbt nie.

Shorties - Kurzgeschichten & Co.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt