Kapitel 3

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Als wir ankamen, war dort niemand. Nicht eine einzige Spur von dem Verrückten. Nachdem ich mich einige Minuten lang umgesehen habe und bereits wieder in das Auto steigen wollte, piepte das Walkie Talkie in meiner Hosentasche leise auf. Sofort nahm ich es in die Hand. Die Stimme des gleichen Mannes erklang, jedoch wesentlich ruhiger. Ruhig und Trauererfüllt. "Woher wusstest du das er tot ist?", fragte die Person am anderen Ende der Leitung leise. Ich antwortete gereizt: "Weil er seit zwanzig Jahren tot ist. Und daran wird sich wohl auch nicht so schnell etwas ändern!" Ja, ich wusste, wie gemein das klang. Ich meinte es auch eigentlich gar nicht so. Aber nun stand ich hier im Halbdunkeln und mir war kalt und ich hatte es dem Kerl schon tausend mal erklärt. Sein Freund war tot.

"Welches Jahr ist es?", fragte er überraschenderweise die gleiche Frage wie ich zuvor. "2023.", antwortete ich knapp. Ich konnte hören wie der andere die Luft einzog. Dann murmelte er: "Das ist ein Scherz oder so, richtig?" Ein Scherz? Warum sollte das ein Scherz sein? "Welches Jahr ist es denn bei dir?", fragte ich. "2003." Bitte was? Das konnte der doch nicht ernst meinen. Dieser Idiot verschwendet meine Zeit. Genervt ließ ich das Walkie Talkie zurück in meine Tasche gleiten. Das konnte doch nicht wahr sein. Das war ein schlechter Scherz. Sowas wurde doch schon etliche Male zuvor gemacht. Wahrscheinlich bin ich in irgendsoeiner angeblich lustigen Show wie 'Verstehen Sie Spaß'. Gleich kommt irgendwo Barbara Schöneberger oder Guido Cantz um die Ecke. Doch es kommt keiner der beiden. Stattdessen kommt Emma: "Es wird langsam spät. Wir sollten fahren. Scheint ja sowieso keiner zu kommen. Ich nicke bloß und folge ihr dann. Das Gespräch mit dem Fremden Mann ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Selbst während der Autofahrt und als ich schon lange im Bett lag, grübelte ich noch darüber. 

Am nächsten Morgen wachte ich noch vor dem Kligeln meines Weckers auf. Ich hatte äußerst unruhig geschlafen und wirres Zeug geträumt. Das konnte ja ein toller Tag werden. Als ich gefrühstückt, geduscht und mich umgezogen hatte, machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Als ich ankam, war noch keiner aus meinem Büro da. Also googelte ich an meinem Laptop nach Jaimy Campbell. Ich schluckte leicht, als ich herausfand, dass sich gestern sein Todestag zum genau zwanzigsten Mal jährte. Dieser Kerl musste mit dem Tod seines Freundes viel zu kämpfen gehabt haben. Wahrscheinlich war ich gestern enormst unsensibel gewesen, als ich ihn so angefaucht hatte. Aber in dem Moment hatte ich nicht wirklich darüber nachgedacht. Der Arme...

Plötzlich riss mich Rusch aus meinen Gedanken, der an mir vorbeigerauscht kam und mir ein kurzes 'Hey!' zurief. Ruckartig wand ich mich zu ihm und sofort lächelte ich wieder. Ich konnte ihn einfach nicht ansehen ohne nicht automatisch auch zu lächeln. Es war wie ein Reflex. Zu meiner Missgunst holte er bloß seine Kleidung für Außeneinsätze. Wahrscheinlich hatte er einen neuen Einsatz. Ich fand es unheimlich schade, dass wir nie zusammen einen Auftrag bekamen. Aber Chajeu weiß genau, wie ich mich in seiner Gegenwart verhielt uns dass ich kaum zu etwas zu gebrauchen war. Es war bereits ein großes Zugeständnis, dass ich in dem selben Büro mit ihm arbeiten durfte.

Schnell schloss ich den Tab. Eigentlich wollte ich die Sache erstmal geheim halten, auch wenn ich wusste, dass Emma bereits davon wusste. Jedoch vertraue ich darauf, dass sie niemandem etwas erzählen würde. Immerhin war es mein Geheimnis und nicht ihrs. "Hey, wie geht's?", frage ich ihn. "Eigentlich ganz gut soweit, und dir?", antwortete er, hastig alle seine Sachen zusammensuchend. "Mir geht's auch sehr gut.", erwiderte ich, leicht rot anlaufend. Ich liebte Smalltalk mit ihm. Es war so entspannend und meistens blamierte ich mich dabei nicht total.

Hektisch eilte er aus der Tür hinaus. Ich rief ihm noch: "Sei vorsichtig!" hinterher, war mir aber nicht sicher, ob er es überhaupt noch gehört hatte. Vielleicht besser, wenn er es nicht gehört hat. Ich verhielt mich wirklich wie ein liebeskranker Idiot. Es war ein Wunder, dass Rusch noch nicht dahinter gekommen ist, dass ich verliebt bin. Gefühlt die ganze Welt weiß es, außer er. Wenn er es herausfindet, wird er mir das Herz brechen, und das wollte ich nicht. Ich wollte mein Herz so gut es geht beschützen.

Seufzend machte ich mich an den Mordfall von gestern. Wir hatten mittlerweile mehr Informationen. Beispielsweise lag der Autopsie Bericht nun vor. Mein Gott. Der Mörder hatte sein Opfer gehörig Übertötet. Oder er wollte einfach nur sicherstellen, dass sein Opfer auch wirklich tot war. Fünf bis zehn Stiche in ein und dieselbe Stelle? Wer tat soetwas? Konzentriert schaute ich die Steckbriefe der Verwandten und Bekannten des Opfers durch, die unsere Kollegen heute Nacht mühselig zusammgestellt haben. Ohne die Nachtschicht bräuchten wir Jahre. Und trotzdem würde ich nie in der Nachtschicht arbeiten wollen. Erstens, schlief ich nachts gerne. Zweitens, hörte man immer die schlimmsten Geschichten aus der Nachtschicht. Und die widerlichsten. Ich habe größten Respekt vor diesen Leuten.

Bei den Steckbriefen fand ich keinerlei Auffälligkeiten, die auf irgendeine Feindschaft hinweisen. Auch beim zweiten und dritten Lesen fand ich nichts. Enttäuscht ließ ich mich noch tiefer in den Stuhl sinken. Mein Rücken knackte und kurz schmerzte es unangenehm. Ich fand, es war an der Zeit sich den ersten Kaffee des Tages zu holen. Und so stand ich auf, trottete aus dem Büro zur Cafeteria uns stellte mich vor die Kaffeemaschine. Leider war niemand vor mir da. Dann hätte ich in der Schlange warten müssen und meine wichtige Arbeitszeit wäre im Nu rumgewesen. Stattdessen bin ich nun schon nach nur fünf Minuten fertig und trotte misgelaunt zurück ins Büro.

Ich bekam fast einen Herzinfakt. Im Büro saß nun Emma und tippte auf ihrem Computer herum. Sie hatte einen Computer von Chajeu geschenkt bekommen, weil sie ja so fleißig war. Rusch und ich nur einen billigen Laptop. Manchmal nervte ihr Übereifer auch etwas. Wie ein Tier stürzte sie sich auf diesen ganzen Papierkram. Ich hingegen könnte kotzen. Bei dem Schreck habe ich etwas Kaffee über meine Hand geschüttet. Kurz tat es weh, aber der Schmerz hielt nicht lange genug, um mich endgültig aufzuwecken. Genervt nahm ich mir irgendein Stück Papier vom Tisch und trocknete damit meine Hand ab. "Verflucht, ich hasse dich Emma.", murmelte ich, während ich den Kaffee auf meinem Platz abstellte. Ohne aufzusehen antwortete Emma: "Würde ich ja gerne erwidern, aber zu Leuten, die ich hasse, fahre ich nicht nach Feierabend, nur um ein Phantom davon abzuhalten, einen Tatort von einem Mord, an welchem ich nichtmal arbeite, zu verwüsten." Ich hasste Emma. Und ich hasste es, dass sie so verdammt lange Sätze bildete, nach denen man weder wusste, was der Anfang des Satzes war, noch warum dieser überhaupt ausgesprochen wurde. Genervt setzte ich mich hin und rieb mir die Schläfen. Ich könnte auf der Stelle einschlafen und erst in fünf Tagen wieder aufwachen. Aber dann würde Chajeu mich auf jeden Fall umbringen. Seufzend ging ich also die gesamten Steckbriefe noch ein viertes Mal durch. Nichts, nichts und wieder nichts. Am besten ging ich einfach zu den Leuten hin und holte mir die Informationen, die ich brauchte.




Loose Youself In The PastWo Geschichten leben. Entdecke jetzt