2. Anfang

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Luna

„...und dann ist sie einfach angeschwollen, komplett grün im Gesicht und ich hab' vor lauter Panik das falsche Gegenmittel gegriffen, sodass sie statt wieder abzuschwellen auch noch angefangen hat wie ein Teekessel zu pfeifen.", beendet Neville gerade seine Geschichte über eine verpatzte Kräuterkundestunde an der Uni, und alle am Tisch brechen in Gelächter aus. Kurz darauf klingelt die Türglocke des „Drei Besen" und kündigt neue Gäste an. Unwillkürlich schweift mein Blick zum Eingang und ich freue mich, Ginny und Ron dort zu entdecken. Doch gleich sehe ich die besorgten Blicke der anderen, zwar ruft Neville die beiden sofort zu uns, aber wir wissen, dass Harry später auch noch dazu kommen wollte. Vielleicht erscheint er ja doch nicht, oder Ginny bleibt nicht so lange. Doch so gut gelaunt wie sie nun auf uns zusteuert, bezweifle ich letzteres. Mein Herz hüpft ein wenig, als ich sehe, dass sie endlich wieder lächelt.
„Hallöchen!", flötet sie und nach der Begrüßung quetscht sie sich neben mich auf die Bank. Freundschaftlich legt sie ihren Arm um meine Schultern und zieht mich kurz an sich.
„Schön, dich mal wieder zu sehen, Luna."
„Gleichfalls.", murmele ich, denn ich kann die Nervosität nicht unterdrücken, die mich bei dem Gedanken befällt, dass Harry jede Minute auftauchen könnte. Ich komme nicht gut mit solchen Spannungen im Raum zurecht.
Ginny bemerkt die Reserviertheit in meiner Antwort und runzelt die Stirn: „Is' was?"
„Harry... war hier mit uns verabredet.", meine ich und schaue sie entschuldigend an. Die Wahrheit strömt fast immer unaufhaltsam aus mir heraus, ich versuche manchmal, es zu verhindern, aber das ist so schwierig, das kostet so viel Energie. Ich frage mich schon mein ganzes Leben lang, wieso anderen Menschen das Lügen oder Zurückhalten der Wahrheit so leicht fällt und mir nicht. Doch Ginny kommt damit schon immer gut klar und reagiert auf die Information zum Glück relativ entspannt: Sie zuckt mit den Achseln und ihr Gesichtsausdruck wird kurz nachdenklich.
„Gut, dann bleibe ich so lange, bis er kommt. Ich muss ja nicht gleich wegrennen, nur weil er vielleicht gleich durch die Tür tritt, oder?" Bei den Worten zieht sie mich noch mal an sich und drückt mir einen Kuss auf die Wange.
„Danke fürs Bescheid geben."
Erleichtert lächele ich in mich hinein und nehme einen Schluck von meinem Butterbier. Neville, Dean und Seamus sind schon längst bei ihrem dritten Bier, aber ich halte mich beim Trinken immer etwas zurück. In unserem fünften Jahr habe ich mich einmal zusammen mit Cho und Ginny hier im „Drei Besen" betrunken und das war, nun ja, eine eher unangenehme Angelegenheit. Leicht errötend bei der Erinnerung daran nippe ich erneut am Bier und lausche Ginny, die laut von ihren Plänen für die nächste Zeit erzählt. Dabei beobachte ich sie genau und sehe, dass sie sich wirklich wieder aufgerappelt zu haben scheint. Ehrlich gesagt habe ich mir langsam Sorgen gemacht. Vor der Trennung haben wir uns zwar nicht allzu oft gesehen, aber sie war immer diese laute, lustige und lebensfreudige Ginny gewesen, die es innerhalb von Sekunden schafft, alle in ihren Bann zu ziehen. Nach der Trennung habe ich sie bisher nur zweimal zu Gesicht bekommen und das auch nur, weil Ron und Hermine sie dazu gezwungen hatten, mal wieder an unserem Stammtisch teilzunehmen. Die beiden Male hatte sie kaum etwas gesagt, ungepflegt ausgesehen und mit leerem Blick in der Ecke gehockt. Umso schöner ist es, wieder die alte Ginny am Tisch sitzen zu haben. Nachdem sie ihre Pläne ausgebreitet hat, steht Ron auf und fragt nach unseren Bestellungen.
„Denk dran, Ron, benimm dich.", gibt Ginny eine kryptische Anweisung von einem schelmischen Blitzen in den Augen begleitet, nachdem sie ihn um einen Feuerwhisky gebeten hat. Halb wütend, halb belustigt zischt Ron ein „Jaja, halt die Klappe." und macht sich auf den Weg zur Bar. Fragend blicke ich Ginny an, die leise vor sich hin kichert.
„Was meintest du, wieso soll er sich benehmen?", frage ich leise, sodass die anderen uns nicht hören.
Sie beugt sich zu mir und streicht mir eine Haarsträhne hinter das Ohr, um mir eine geflüsterte Antwort zu geben: „Ron steht auf Rosmerta und Hermine hat Angst, dass er mit ihr flirtet, wenn er alleine herkommt." Danach bricht sie in lautes Lachen aus und auch ich muss bei dem Gedanken an einen flirtenden Ron schmunzeln. Inzwischen kann ich flirten besser erkennen, früher hatte ich damit meine Probleme. Das subtile daran, die heimlichen Blicke, die zufälligen Berührungen, die zweideutigen Sprüche – all das konnte ich früher nicht gut entschlüsseln. Durch ein wenig Übung die letzten Jahre bin ich etwas besser darin geworden und tatsächlich habe ich viel durch Erklärungen von Ginny gelernt.
„Wollen Sie den Witz mit der Klasse teilen?", fragt Seamus in einer perfekten Imitation von McGonagall und wir schütteln nur den Kopf, während nun auch die anderen glucksen und Ron zurück an den Tisch kommt. Sein Gesicht ist leicht gerötet und er verschüttet ein wenig von seinem Bier, als er es absetzt.
Die Zeit verfliegt wie im Flug, der Pub wird voller und durch den steigenden Alkoholpegel wird es laut und warm. Irgendwann kann ich die unterschiedlichen Reize nicht mehr gut filtern und lehne meinen Kopf an die Wand hinter mir, schließe die Augen. Harry ist bis jetzt nicht erschienen und ich vermute, dass er dann wahrscheinlich nicht mehr auftaucht. Ich freue mich darüber, denn es ist angenehm, dass Ginny hier neben mir sitzt, ich fühle mich so wohl in ihrer Nähe. Ich fände es schade, wenn sie demnächst schon gehen würde.
„Ich muss hier weg.", höre ich Seamus und ein lauter Protest von den anderen folgt.
„Bleib doch noch ein bisschen, die Nacht ist noch jung!", ruft Dean.
„Doch nicht HIER weg,", antwortet Seamus, „sondern aus England. Ich will nach Berlin." Dean lacht: „Ja klar, und ich will nach Paris ziehen, üm endliesch mal ein gütes Baguette zü essön ünd ein biss-schön francäs redön." Sein falscher französischer Akzent ist schrecklich anzuhören, so schlecht macht er ihn nach. Ich öffne meine Augen wieder und schaue zu den beiden. Dean funkelt Seamus belustigt an, aber auf seinen Iriden schwimmt noch ein anderes Gefühl. Wut? Sorge?
Seamus funkelt ihn zurück an und bei ihm liegt darin eindeutig Wut.
„Kannst du mich ein einziges Mal ernst nehmen? Ich halte es hier nicht mehr aus. Ich will etwas Neues sehen, was Neues erleben. Mein Cousin lebt in Berlin, bei dem könnte ich erstmal eine Weile unterkommen." Wir schweigen. Ich kann ihn verstehen. Ich bin zufrieden mit meinem Leben hier, aber manchmal frage ich mich, was ich noch für tolle Wesen und Menschen im Rest der Welt entdecken könnte.
„Dann mach das doch.", sage ich deshalb, „Das klingt gut. Ich komm' dich besuchen." Seamus löst den Blick von Dean, der ihn fassungslos anstarrt und schaut mich dankbar an. Auch Ginny klopft ihm voller Zuneigung auf die Schulter: „Und ich begleite Luna." Während wir in ein Gespräch über die Vorzüge von Berlin abtauchen, tut mein Herz beim Anblick von Dean weh. Traurig sitzt er da und pult am Etikett seiner Bierflasche herum. Auch seine Traurigkeit kann ich nachvollziehen, schließlich würde er durch den Wegzug von Seamus seinen besten Freund an ein fremdes Land verlieren. Ich nehme sanft seine Hand und er hält sie eine Weile, ohne es zu schaffen mir in die Augen zu schauen. Dabei merke ich, dass Ginny neben mir sich etwas versteift.
„Luna, spielen wir ‚ne Runde Hexendart?", fragt sie kurz darauf und ich drücke Deans Hand leicht, lasse sie dann nach einem Nicken seinerseits los und stehe gemeinsam mit Ginny auf. Wir schlängeln uns durch den Pub zur Dartscheibe neben dem Tresen zu, sie geht vor und greift ganz selbstverständlich meine Hand, um mich hinter sich herzuziehen. Ich versuche, den Salto meines Magens bei dieser Berührung zu ignorieren. Ihre Hand zu halten fühlt sich definitiv anders an, als Deans Hand zu halten und ich frage mich, warum.


FlammenrotWhere stories live. Discover now