Vanessa - Was wäre, wenn?

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Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln der deutschen Hauptstadt zu fahren, hat mich nie großartig gestört. Vielmehr empfand ich es stets als erfrischend in einem Waggon zu sitzen, wo so viele unterschiedliche und individuelle Menschen Platz finden konnten.

Das eine Mal, als ich als Grundschülern mit meiner Klasse unterwegs war, kam ein Straßenmusiker mit einer Akkustikgitarre herein, deren Retrostyle ich damals schon als totschick empfand. Außerdem trug er völlig abgeranzte Lederboots über seiner schwarzen Jeans, worüber ein blau kariertes Hemd hing, dessen Ärmel so weit wie möglich nach oben gekrempelt waren. Wahnsinn, hatte dieser Mann eine Ausstrahlung! Sein heiteres Lächeln, als er die ersten Seiten des Instruments spielte und seine taktvollen Bewegungen! Ich war vollkommen fasziniert! Und als dann auch noch seine leicht rauchige Stimme ertönte, sprach die Musik zu mir! Am liebsten wäre ich noch stundenlang mit dem geheimnisvollen Musiker mitgefahren, hätte mit ihm gemeinsam die rockigsten Songs gesungen und mich dem Rausch der Klänge hingegeben. Meine bekloppte Lehrerin musste mich förmlich aus dem Waggon schleppen, damit ich nicht verloren ging und ich hasste sie dafür, was ich auch mit auffällig lautem Widerspruch zeigte. Meine Eltern waren nicht sonderlich erfreut, als sie mich zum ich weiß gar nicht mehr wievielten Mal aus dem Rektorat abholen mussten und das zerkratzte Gesicht meiner Lehrerin dabei sahen.

Das andere Mal saß ich mit meiner frischen Volljährigkeit morgens in der U-Bahn und ließ die Lieder von Fallout Boy durch meine riesigen Kopfhörer in meinen Gehörgang dröhnen und wippte dabei rhythmisch meinen Kopf mit, während sich die Bahn mehr und mehr zu füllen begann. Ich weiß noch, dass ich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm und eher desinteressiert hinschaute. Es war ein dunkelhäutiger Mann, Mitte der Dreißiger schätze ich, und stand mit einem breitem Lächeln auf, deutete mit seiner Hand zu dem nun freien Sitz und ließ einen älteren Herren, der an einem langen Stock lief, diesen beanspruchen. Es war eine ganz normale Geste, die ich selbst schon viele Male benutzt hatte, doch es wärmte mir jedes Mal aufs Neue das Herz, wenn ich gleichgesinnte Seelen fand. In dem Moment, wo der hochgewachsene Mann sich neben mich stellte, drückte ich ihm spielerisch an der Schulter. "Coole Aktion", sagte ich damals zu ihm und bekam ein aufrichtiges Lächeln geschenkt, als er meinen hochgehaltenen Daumen sah.

Es gibt noch so viele andere unglaublich schöne Geschichten, die ich in den Berliner Verkehrsbetrieben erlebt hatte und mich daran erinnern, wie facettenreich und liebenswert der normale Alltag des Lebens ist. Ich weiß, dass es stattdessen auch viele Menschen gibt, die den großen Andrang, die Lautstärke, das Ambiente und die Tatsache eine Zeit lang mit Fremden in einem engen Raum gefangen zu sein, nicht mögen und gar schlechte Erfahrungen gemacht haben, doch ich fahre gerne durch die Stadt, schaue glücklich in die vielen mir fremden Gesichter und erfreue mich an den jedes Mal überraschenden Momenten. Bisher habe ich es aber leider noch nicht geschafft, dem Mann neben mir mit dieser Freude anzustecken.

"Ich fasse es nicht, das du mich hierzu überredet hast!" Ich sehe ihn an und schmunzele, als sich ein Gast zu Theodor setzt, neben dem ein Platz frei geworden ist, und mein Nachbar sichtlich unangenehm über diese Situation von ihm abrückt, noch näher zu mir, sodass ich glaube, er würde mir fast schon auf dem Schoß rutschen. Er versucht zwar seine stolze Haltung dabei zu bewahren, indem er seinen grauen Stoffmantel enger um sich zieht und aufrecht sitzt, doch ich weiß ganz genau, dass er mich innerlich für diese Fahrt verflucht. Seine nächsten Worte geben mir meine Bestätigung: "Im Winter, dick eingepackt mit Mantel, in einem überbeheizten Waggon mit viel zu vielen Menschen, wovon wohl kaum einer das Wort Deodorant kennt, zu sitzen, mit dem Ziel mir in den nächsten Stunden sämtliche Knochen zu brechen. Ich muss dir sicher nicht erläutern, wie äußerst obskur das für mich ist!"

Ich muss lachen: "Oh mein gesellschaftsscheuer Liebling, ich hab dir doch gesagt, dass du nicht mit mir Wetten darfst."

Das Läuten der U-Bahn, die das Schließen der Zugtüren ankündigt, erfüllt den ganzen Waggon, während die letzten Fahrgäste noch versuchen sich irgendwie in die Masse der Leute hinein zu quetschen und Theodor grummelnd das Schauspiel beobachtet: "Die Chance, dass Markus über die Auswirkungen deiner Geheimnisse immer noch enttäuscht war, lag meines Erachtens nach sehr hoch. Hätte ich gewusst, dass du ihn schon vor unserem Gespräch bezirzt hast, hätte ich dieser Wette natürlich nicht zugestimmt. Das war vorsätzliche Täuschung feinster Art."

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