Schon mal was von Wahnsinn gehört?

14 2 3
                                    

"Was soll das heißen, Sie können uns keine genaueren Auskünfte geben?"

Es war nicht nur der überaus zornige Ton in der Stimme seines Assistenten, der Theodor zusammenzucken ließ, sondern auch der Schmerz, den man mit jeder Silbe heraushören konnte. Noch nie hatte er ihn so fassungslos und orientierungslos erlebt, aber er konnte es Markus überhaupt nicht verübeln. Vor nicht mal einem Tag musste er dabei zusehen, wie seine Schwester in Mitten der tanzenden Meute von einem Moment zum nächsten zu Boden ging. Er sah zu, wie die Leute einfach weiterfeierten, während Theodor den leeren Blick in Vanessas Augen sofort wahrnahm und nicht einen Moment zögerte und anfing sie zu reanimieren. Er hörte das Knacken, als dabei ihre Rippen brachen und die laute Sirene, die nach und nach den Weg zu ihnen fand. Es fühlte sich an, als wären bis dahin Stunden vergangen.

"Herr Klamm", sprach der Arzt in der blauen Operationsuniform und sah dabei so aus, als wären ihm seine nächsten Worte sehr unangenehm. "Ich verstehe Ihre Sorgen, wirklich. Allerdings haben wir die schriftliche Anweisung keinerlei Details über Frau Klamm und ihren Zustand weiterzugeben. Ich kann Ihnen lediglich sagen, dass wir eine Notoperation durchführen mussten und Ihre Schwester diese ohne weitere Komplikationen überstanden hat. Aufgrund ihrer Erkrankung befindet sie sich nun zur Überwachung auf der Intensivstation." 

Theodor beobachtete, wie Markus sich verwirrt durch sein Haar fuhr und sagte: "Ich verstehe das nicht. Mein Schwester ist krank? Seit wann? Welche Krankheit ist es? Kann man sie heilen? Wird sie durchkommen?"

Theodor kannte die Regeln. Ihm war klar, dass es für den Arzt keine Möglichkeit gab ihnen weitere Informationen zukommen zulassen, so sehr Markus ihn auch bedrängte. Ein mitfühlender Ausdruck umrundete die müden Augen des Arztes: "Es tut mir leid. Laut der Patientenverfügung von Frau Klamm steht es mir auch bei diesen Fragen nicht zu, Ihnen Auskunft zu geben. Sie müssen leider darauf hoffen, dass Ihre Schwester aufwacht und Sie sie dann selbst fragen können." Die Tatsache, dass es eine Patientenverfügung überhaupt gab und Vanessa allem Anschein nach darauf bestanden hatte, keinerlei Informationen über ihren gesundheitlichen Zustand preiszugeben, hinterließ ein beunruhigendes Gefühl in Theodors Magengegend.

"Hoffen?" Die zuvor wütende Stimme von Markus, klang mit einem Mal ängstlich. "Geht es ihr...", er versuchte den dicken Kloß in seinem Hals hinunterzuschlucken, "geht es ihr so schlecht?" Seine gekrümmte Haltung brachte Theodor dazu, seine Hand auf die zitternden Schultern seines Assistenten zu legen, um ihm so irgendwie Trost spenden zu können. Er wusste, dass das für ihn eine eher untypische Geste war. Durch seine Tätigkeit im Erbrecht kannte er solch ähnliche Situationen nur zu gut und war der Emotionalität in ihnen längt überdrüssig geworden. Wie oft saßen Menschen vor seinem Schreibtisch, während er die Erbschaft verlaß und ließen ihrer Trauer, zu seinem Übel, freien Lauf? Wie oft musste er Markus in der Vergangenheit losschicken, um neue Taschentücher zu besorgen, weil sein Vorrat innerhalb von einer Woche von seinen Klienten aufgebraucht wurde? Doch hier ging es nicht um irgendeinen für ihn fremden Namen auf einem Blatt  Papier, mit dessen Tod er seinen Unterhalt verdiente. Hier ging es um eine Schwester, mit deren Bruder Theodor jeden Tag zu tun hatte. Hier ging es um die erste Person, die es geschafft hatte, sich in sein Herz zu schleichen. Hier ging es um eine Frau, deren Facetten Theodors sonst so trübes Leben in einem neuen, hellen und strahlenden Licht erscheinen ließ. Es ging um den Menschen, den er liebte!

Und genau diese Tatsache brachte dem jungen Mann eine Emotion in ihm zum Vorschein, die im kompletten Widerspruch zu seinen neu entfachten Gefühlen für sie stand: Wut. Er erkannte sich selbst nicht mehr wieder und das Chaos in seinem Herzen wurde noch mehr angezettelt, als er an den Moment des Festes zurückdachte, wo er in die eingefallenen Augen Vanessas sah. Vielleicht kam daher seine Wut? Galt sie ihm selbst, wenn er überlegte, dass ihm ihr trüber Blick, ihr schwerer Atem und ihr schwankender Körper nicht aufgefallen waren? Viel mehr war er von ihrer Anmut, der Freude in ihrem Lächeln, als sie ihn sah und dem wildem Klopfen in seinem Herzen abgelenkt gewesen. In dem Moment, wo die beiden aufeinander zugegangen waren, hatte er nichts anderes mehr wahrgenommen. Nicht mal mehr seine tropfenden Haare, die vom starken Regen weiterhin durchnässt wurden oder die aneinander reibenden Körper um ihn herum waren noch von Bedeutung. Einzig und allein ihre Präsenz und sein inniger Wunsch diesem bestimmten Menschen so nahe sein zu können, wie bei noch niemanden zuvor in seinem Leben, erweckten seine volle Aufmerksamkeit.

KonfettiregenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt