Es war meiner Schwester noch am gleichen Tag aufgefallen, dass man mir keine schwerwiegenden Entscheidungen überlassen sollte. Einen Namen für das Kätzchen auszuwählen, hatte mich in eine weitere kleine Existenzkrise getrieben. Wir mussten den Namen unseres neuen Familienmitglieds für die nächsten zehn Jahre rufen, ich durfte also keine falsche Entscheidung treffen. Mir war bei dieser Entscheidung ein großer Fehler aufgefallen, den ich vor Jahren begangen hatte. Ich hatte unsere beiden Esel Pepper und Parsley nach den Gewürzen Pfeffer und Petersilie benannt. Da unser Kater Ginger dem Gewürz Inger benannt war, musste die neue Katze nach youngscher Logik ebenfalls nach einem Gewürz benannt werden, was aber nicht ging, da die Esel bereits nach Gewürzen benannt waren. Natürlich hatte Mum Gingers Namen nach dem Gesichtspunkt ausgewählt, dass er rotes Fell hatte, weshalb mir Tati auch riet, die Katze ironischerweise Blondie zu nennen, aber das erschien mir nicht passend. Als ich Mum von meinen Sorgen berichtete, verdrehte sie nur die Augen und drohte mir, die Katze Emily zu nennen. Timmi war der einzige, der meine Verzweiflung nachvollziehen konnte. Er half mir dabei, Recherche zu betreiben, bei der wir glücklicherweise herausfanden, dass Ingwer nicht nur als Gewürz verwendet werden konnte, sondern auch als Arzneidroge. Wir studierten eine halbe Stunde lang verschiedene Heilpflanzen um herauszufinden, nach welcher wir die Katze benennen konnten. Die einzige schwarze Pflanze, die wir finden konnten, war die Tollkirsche. Ihr biologischer Name Atropa Belladonna war etwas zu lang für einen Tiernamen, also kürzten wir ihn zu Bella ab. Das klang vielleicht nicht nach einem originellen Namen, aber er passte ins Schema und das war am Ende des Tages alles, was zählte. Bella brauchte noch ein wenig Zeit, um sich in ihrem neuen Zuhause zurecht zu finden. Mum hatte sie von einem Mitarbeiter der evangelischen Kirche in Eagle River gekauft, dessen Hauskatze nach einem Ausflug in die Wildnis schwanger zurückgekommen war.
»Besser meine Katze als meine Tochter.«, hatte er meiner Mutter nach eigener Aussage erklärt. Bella ließ sich bereits von mir streicheln und sogar auf den Arm nehmen, sie fürchtete sich nur vor Dad und den anderen Tieren, weshalb sie sich nicht in den Garten wagte. Der einzige, an den sie sich schon heranwagte, war Ginger, aber nachdem Dad Nikita gestern ins Haus gelassen hatte, traute sich Bella nicht unter Tatis Bett hervor. Da ich wollte, dass Bella mein Vertrauen gewann, musste ich Abstand zu unserem Hund halten, damit sein Geruch nicht an mir haftete, aber gerade heute befahl mir mein Vater, Nikita an diesem Nachmittag mit nach Eagle River zu nehmen und für ihn Briefe vom Postamt abzuholen. Als ich ihn fragte, wieso er das nicht selber tun konnte, antwortete er mir nur:
»Ich will, dass du rauskommst.« Er ließ nicht locker, bis ich mich angezogen und den Hund angeleint hatte. Es war zu Fuß ein ganzes Stück bis nach Eagle River, zu Fuß lief man von unserem Haus eine gute halbe Stunde. Glücklicherweise war Nikita heute verhältnismäßig ruhig und obwohl mich die Aussicht auf einen Spaziergang anfangs nicht mit Freude erfüllt hatte, gefiel es mir doch, an diesem Sommertag den Hund spazieren zu führen. Zumindest so lange, wie wir im Schatten der Bäume des Waldes unterwegs waren. Obwohl ich bis vor wenigen Monaten noch in der Großstadt gelebt hatte, war ich nicht mehr an die Geräusche von Autos und den Anblick von Menschen gewöhnt. Wie konnte irgendjemand sich in so einer lauten Umgebung wohl fühlen? Vor dem Postamt musste ich Nikita anleinen, da keine Hunde in das Gebäude durften. Ich musste durch zwei automatische Schiebetüren gehen, um einen braun gefliesten Raum zu betreten, der nur durch Neonlampen beleuchtet wurde. Hier drinnen fühlte ich mich augenblicklich erschlagen. Wer war denn bitte für diese hässliche Innenausstattung verantwortlich gewesen? Mir wurde in diesem Moment klar, wie deprimierend das moderne Leben eigentlich war. Die Städte waren nicht nur laut, sondern auch hässlich.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte mich ein blonder Mann, dessen Gesicht hinter einer dicken Brille und einer medizinischen Maske versteckt war.
»Ich muss Post für Jason Young abholen.«, erklärte ich und trat an den Tresen heran, hinter dem er stand.
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American Aspie (2021)
General Fiction"Ich hätte das Asperger-Syndrom, hatte mir der Kinderpsychologe mit Halbglatze erklärt, zu dem mich meine Eltern mit acht Jahren geschleppt hatten." Lia Young zeigt uns die Schwierigkeiten und Freuden ihres Alltags, von ihrer ebenso chaotischen wie...