Kapitel 16

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Ich hatte schon einige Fotos zusammengesammelt, das Problem war nur, dass ich kein Album hatte. Alle, die wir zu Hause hatten, waren bereits voll. Da Eagle River kaum Geschäfte hatte, musste ich mir also eins liefern lassen. Dad erzählte ich nichts von meinen Plänen, denn ich war mir sicher, er hätte mich dazu gedrängt, für ein läppisches Album nach Anchorage zu fahren. Vielleicht wäre das keine schlechte Idee gewesen, aber erstens war ich nach wie vor ein Weichei und zweitens hatten wir schon andere Pläne. Mit wir meinte ich Timmi und mich. Ich borgte mir also Dads Auto unter dem Vorwand, ich wollte mein Fotoalbum von der Post abholen. Das war nicht gelogen, aber es war eben nicht das einzige, was ich vorhatte. Vielleicht hätte ich mich nichts ins Auto gesetzt, wenn es nicht zwei Dinge zu tun gäbe. Ich langweilte mich in letzter Zeit so sehr, dass ich den Weg nach Eagle River auch zu Fuß auf mich genommen hätte, würde ich meinem Bruder nicht einen Gefallen tun wollen. Außerdem bereitete es Dad immer eine Freude, wenn ich freiwillig mit dem Auto fuhr, war die Strecke auch noch so kurz. Wie gesagt düste ich also an diesem Dienstag mit gemächlicher Geschwindigkeit zum Postamt in Eagle River. Heute traf ich auf einen anderen Postmitarbeiter als beim letzten Mal, er trug keine Brille, hatte einen Bierbauch und dunkles Haar, mein Paket überreichte er mir wortlos und verlangte nicht einmal nach meinem Ausweis. Da ich natürlich viel zu früh nach Eagle River gefahren war, musste ich in dem Auto warten, das ich in der Nähe der Poststation geparkt hatte und packte mein Album aus. Es sah genauso aus wie auf der Website, ich hatte es mir lediglich etwas kleiner vorgestellt. Es war hellblau und auf der Vorderseite waren mit Computersoftware generierte Berge abgebildet, über denen das Wort Memories prangte. Ich blätterte das Album durch, als wären bereits Fotos darin und stellte mir vor, wie ich es gestalten würde. Ich wusste nicht, wie lange ich in Gedanken versunken die leeren Seiten anstarrte und ich schreckte hoch, als jemand gegen das Fenster auf der Beifahrerseite klopfte. Ich hatte mit Debbi diesen Parkplatz als Treffpunkt vereinbart, sie lächelte mich durch das Fenster an und winkte. Ich wartete, dass sie einstieg und wir starrten uns gefühlte fünf Minuten einfach nur an, bis mir die Idee kam, das Fenster herunterzukurbeln.

»Steig ein!«, forderte ich sie auf und sie öffnete die Beifahrertür.

»Hallo Lia!« heute trug sie ein beiges Kleid und ein langer Zopf fiel ihr den Rücken hinab. Ich startete den Motor, um rückwärts aus der Parklücke zu fahren, in die ich so geschmeidig gefahren war, das mich beim Aussteigen der Stolz überrollt hatte.

»Wir überraschen eure Eltern, oder?«, fragte Debbi, während wir aus Eagle River hinaus fuhren. Ich nickte, ohne etwas zu sagen. Würde die Fahrt nach Hause länger als fünf Minuten dauern, hätte ich mich nie dazu bereiterklärt, Debbi abzuholen.

»Kannst du eigentlich selbst Autofahren?«, fragte ich sie schließlich um so zu tun, als wäre ich an einem Gespräch interessiert. Debbi nickte.

»Ich habe einen Führerschein, aber kein eigenes Auto.«, erklärte sie. »Wenn ich fahren will, dann muss ich meinen Vater fragen und dann möchte er wissen, wo ich hin will. Er weiß nichts von Timmi, deshalb kann ich noch nicht selbst zu euch fahren. Außerdem weiß ich nicht einmal, wo ihr wohnt.«

»Interessiert es deinen Vater nicht, mit wem du seit einem Jahr textest?« Ich ging davon aus, dass sich normale Leute mit ihrer Familie darüber austauschten, was sie so den ganzen Tag mit wem trieben. Debbi lachte.

»Ich bin erwachsen, meine Eltern kontrollieren mein Handy nicht mehr.« Da hatte sie wohl recht. Ich wusste nicht wer nervöser war, als wir in die Einfahrt fuhren, sie oder ich, denn nachdem ich den Motor abgestellt hatte, bemerkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte. Das lag nur zu einem kleinen Teil an meiner Angst vorm Autofahren, da war ich mir sicher. Ich fieberte schon seit einer Woche darauf, wie es mit Timmi und Debbi weitergehen würde und heute lernte sie schon unsere Eltern kennen. Wenn Mum und Dad sie nicht mochten, dann würde sich das negativ auf mein Seelenheil auswirken. Ich verbarg mein Gesicht vor ihr, während ich vor ihr auf unser Haus zuging, sie sollte mein Grinsen nicht bemerken. Ins Haus mussten wir aber gar nicht gehen, denn Timmi wartete bereits im Garten auf uns, neben ihm bellte Nikita sich die Seele aus dem Leib, erfreut über den Geruch eines neuen Menschen. Timmi öffnete das Gartentor, ohne jedoch dabei zu bedenken, dass Nikita die Tendenz hatte, Menschen anzuspringen. Debbi schrie erschrocken auf, als unser Hund sie voller Liebe und mit dreckigen Pfoten attackierte.

American Aspie (2021)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt