Kapitel 3

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Das Gefühl dem Tod nahe zu sein, hatte mich seit meinem Ausflug nach Santa Monica nicht verlassen. Ich spürte zu jeder Tageszeit meinen Herzschlag mit unterschiedlicher Intensität. Inzwischen hatte ich das Gefühl, der Teufel höchstpersönlich würde mein Herz in seiner Faust zerquetschten. Die letzten zwei Nächte hatte ich kaum geschlafen, selbst in den wenigen Stunden, in denen ich ein wenig Ruhe gefunden hatte, war ich mehrmals aufgewacht mit einem Gefühl der Taubheit in der Brust. Ich wusste nicht, ob es mich wundern sollte, dass ich noch am Leben war, als ich an diesem Vormittag im Fitnessstudio stand. In der Regel übernahmen meine Kolleginnen alle Aufgaben, die mit der Beratung unserer Kunden zu tun hatten, aber natürlich musste ich gerade heute mit einer neuen Kundin allein gelassen werden. Wenn jemand zum das erste Mal in unser Fitnessstudio kam, dann war es für uns als Trainer besonders wichtig, einen guten Eindruck auf die Person zu machen und dafür zu sorgen, dass sie sich wohl fühlte. Ich war schon in stabilem Geisteszustand keine außerordentlich warmherzig erscheinende Person, aber ich hatte es mir über die Jahre antrainiert, mit Menschen zu sprechen und dabei eine freundliche Miene zu machen. Die neue Kundin musste etwa in meinem Alter sein, sie war jung und leicht übergewichtig und erzählte mir, dass sie noch nie in ihrem Leben ein Fitnessstudio von innen gesehen hatte. Sie brauchte eine ausführliche Beratung, aber leider hatte ich im Moment keine Energie für Konversationen übrig. Mein schmerzhaft pochendes Herz quälte mich mit jedem Schlag und zu sprechen bereitete mir körperliche Schmerzen. Ich ratterte der guten Frau so schnell ich konnte alles herunter, was ich in meiner Ausbildung über die Fitnessgeräte gelernt hatte.

»Wenn Sie noch Fragen haben, dann wenden Sie sich bitte an meine Kolleginnen.« Ich deutete in die Richtung der Lobby, wo sich Colleen und Linda unbeschwert unterhielten, dann ließ ich die Kundin verblüfft zurück, denn ich musste flüchten. Ich hielt es keine Minute mehr im Studio aus und lief in die Umkleide für Mitarbeiterinnen. Das grelle Licht an der Decke schaltete sich automatisch ein und blendete meine Augen. Mit geschlossenen Lidern riss ich mir den Mundschutz vom Gesicht und tastete nach der nächsten Holzbank, auf der ich mich niederlassen konnte. Nachdem sich meine Augen soweit an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, dass ich sie ganz öffnen konnte, starrte ich den Spind an, vor den ich mich gesetzt hatte. Ich wusste nicht, wem er gehörte, aber auf jeden Fall war es nicht meiner. Das war das einzige, was mir im Moment durch den Kopf ging. Dieser Spind aus dunkelgrünem Metall, mein Schlüssel passte nicht in sein Schloss und meine Kleidung lag nicht darin, denn mir gehörte ein Spind am anderen Ende des Raumes. Mein Gehirn war zu keinem anderen vollständigen Gedanken fähig. Mein Gehirn, das normalerweise vierundzwanzig Stunden täglich auf Hochtouren lief, es war leer. Ich konnte nicht denken, nicht arbeiten, nicht sprechen, ich konnte nur hier sitzen und vor mich hin starren. Ich war erst seit zwei Stunden bei der Arbeit und es wurde mir jetzt schon zu viel, wie konnte ich es nur bis zum Nachmittag aushalten? Ich fühlte mich nicht im Stande, irgendetwas zu tun, aber als meine Kollegin Colleen mich wenig später zurück ins Studio rief, kehrte ich bereitwillig zur Arbeit zurück. Arbeit gab es in diesem Sinne nicht, Linda hatte sich inzwischen unserer Kundin angenommen und Colleen hatte mich nur aus der Umkleide gescheucht, weil sie nicht zulassen konnte, dass ich mich vor meinen Pflichten drückte.

»Du hast dich gar nicht um die Frau gekümmert.«, meckerte sie mich an. »Es ist dein Job, unsere Kunden beim Training zu unterstützen, ist das zu viel verlangt? Wir haben sowieso seit Wochen kaum Arbeit, Lia. Wie kannst du nur so faul sein?«

»Fick dich doch ins Knie, Colleen.« Meine Kollegin riss erschrocken die ozeanblauen Augen auf, sie sah so schockiert aus, wie auch ich mich im nächsten Moment fühlte. Ganz kurz hatte ich Genugtuung empfunden, nachdem ich Colleen beleidigt hatte, dann realisierte ich jedoch, was ich eben getan hatte. Ich fluchte nie, nicht einmal vor meinen Geschwistern, und in der Öffentlichkeit durfte meine Fassade eigentlich nicht bröckeln. Colleen durfte nicht wissen, dass ich tief im Inneren Brechreiz in ihrer Nähe empfand.

American Aspie (2021)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt