Ich hatte meinen Vater als großen und hageren Mann in Erinnerung. Er hatte in diesem Jahr nicht an Größe verloren, aber es wunderte mich, dass er einen kleinen, aber deutlich sichtbaren Bauch angesetzt hatte. Noch mehr wunderte es mich aber, dass es mir erst heute auffiel. Ich war am Dienstag in Alaska angekommen und heute war Freitag. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich Dad heute zum ersten Mal seit meiner Ankunft in einem Hemd sah und nicht in einem der unförmigen T-Shirts, die er zu Hause trug. An diesem Vormittag machte ich einen Spaziergang mit Dad und Timmi am Eagle River entlang zur Eagle Bay. Da Mum auf ihrer Arbeit im Städtchen Palmer war und Tati am Vormittag Unterricht hatte, waren wir drei allein mit Nikita unterwegs. Früher waren wir gerne als ganze Familie den Fluss entlang gewandert, was manchmal etwas in Chaos ausgeartet war, wenn wir zu fünft mit damals noch zwei Hunden unterwegs gewesen waren. Nikita hatte noch vor zwei Jahren eine Schwester namens Diana gehabt, die von Mum und Tati Lady Di genannt wurde, vom Rest der Familie Didi. Ich vermisste Didi, sie war nicht halb so temperamentvoll gewesen wie Nikita und hatte alle Mitglieder der Familie Young gleich gern gehabt. Sie war als junge Hündin an Magenkrebs gestorben, Dad hatte sich nach ihrem Tod drei Tage lang nicht blicken lassen. Nikita war nicht unser einziges Tier, wir hatten einen orangen Kater namens Ginger, den Mum noch in Seattle adoptiert hatte, außerdem drei Esel und zwei Ziegen, einen Stall voller Hühner und einem Hahn und natürlich durfte Dads größter Stolz nicht unerwähnt bleiben: ein vier Meter langer Python namens Jakarta. Mein aus dem amerikanischen Süden stammender Vater war auf einem Bauernhof aufgewachsen und anstatt mit anderen Kindern zu spielen, hatte er seine Kindheit in der Gesellschaft von allen möglichen Farmtieren verbracht, seine Liebe für Tiere hatte er sein Leben lang nicht verloren. In der Gegenwart von Timmi und meinem Vater fühlte sich Schweigen natürlicher an als zu sprechen, auch wenn ich mit meinem Bruder an manchen Tagen stundenlang sprechen konnte. Heute hatten wir uns keinen guten Tag zum Wandern ausgesucht, der Himmel war bewölkt und der Fluss wirkte grau, wenn wir Pech hatten -oder Glück je nachdem, wen man fragte- dann würden wir in den Regen kommen. Ich hatte mir eine Regenjacke von meiner Schwester ausgeliehen, da ich so naiv gewesen war zu glauben, nach meinem Umzug nach Kalifornien würde ich nie wieder wetterfeste Kleidung brauchen.
»Gibt es eine solche Natur auch in Los Angeles?«, fragte Dad mich mit begeistertem Ton und streckte den Arm aus um mir zu demonstrierenden, was mir entgangen war.
»In Los Angeles gibt es noch schönere Wanderwege.«, entgegnete ich. Ich hatte absolut keinen Grund, Kalifornien zu verteidigen, aber es war trotzdem kein komplettes Höllenloch, wie mein Vater sich es vorstellte. Als ich noch in meiner Ausbildung zur Fitnesstrainerin gewesen war, war ich dreimal die Woche wandern gegangen, wo ich die Aussicht auf den Hügeln mehr genossen hatte als hier. Vielleicht langweilte mich der Eagle River, da ich schon so oft hier entlang gegangen war, vielleicht lag es aber auch am Wetter. Vor mir konnte ich in der Ferne den Knik Arm sehen, eine Wasserstraße im Süden Alaskas, wenn ich mich umdrehte, konnte ich hinter mir in noch weiterer Ferne die Berge sehen, die sich bei schönem Wetter weiß vom blauen Himmel abhoben. Rechts von mir befand sich der dichte Wald, links neben mir floss der Fluss. Ich konnte trotz geringer Begeisterung verstehen, warum Dad hier gerne entlang ging.
»Kein Ort dieser Welt lässt sich mit Alaska vergleichen.«, schwärmte er. »Schön wie Kanada, einsam wie Sibirien und trotzdem frei wie Amerika.«
Nikita bellte zur Bestätigung.
»Ich hätte schon viel früher hierher ziehen sollen.«
»Dann hättest du Mum aber nie kennengelernt.«, machte Timmi ihn aufmerksam.
»Wir hätten nach unserer Verlobung nach Alaska durchbrennen können, will ich damit sagen.« Dad blickte lächelnd in den grauen Himmel und ich erwartete, dass er uns mit einem seiner üblichen Monologe darüber beglücken würde, was er alles an Alaska liebte, aber heute blieb er still. Er sah stattdessen mich an, ich ging ein paar Meter hinter ihm und er wartete, bis ich zu ihm aufgeschlossen hatte, dann drückte er mir Nikitas Leine in die Hand. Der Hund lief fröhlich durchs Gras, etwas zu fröhlich für meinen Geschmack, denn er zog mich so rasch mit sich, dass ich beinahe stolperte. Zugegeben, Nikita war riesig, aber seit wann war ich denn so schwach, dass ich von einem Hund durch die Gegend gezerrt wurde? Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich mich wieder gefangen hatte und mit ihm das Tempo halten konnte. Während wir der Eagle Bay immer näher kamen, begann es zu regnen. Erst fielen nur vereinzelte Tropfen, von denen ich in meiner Naivität hoffte, dass sie vorbeiziehen würden und ich trocken blieb. Als wir den Strand erreicht hatten, strömte es endgültig wie in Silberfäden.
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American Aspie (2021)
Beletrie"Ich hätte das Asperger-Syndrom, hatte mir der Kinderpsychologe mit Halbglatze erklärt, zu dem mich meine Eltern mit acht Jahren geschleppt hatten." Lia Young zeigt uns die Schwierigkeiten und Freuden ihres Alltags, von ihrer ebenso chaotischen wie...