10 | Der Brief

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Mit blutendem Finger stehe ich in meinem Zimmer und krame in meiner Tasche nach einem Pflaster. Natürlich musste ich mich in dem Moment schneiden, als Mary kurz raus ist, um einen Salat fürs Mittagessen zu ernten. In meinen Gedanken bei dem Junior, der noch immer nicht zurück ist, habe ich gar nicht darauf geachtet, dass die Karotte, die ich fürs Mittagessen geschnitten habe, schon am Ende war und mir darum den halben linken Zeigefinger abgeschnitten.

Naja, fast.

Auf jeden Fall krame ich nun, den Finger inzwischen in meinem Mund, weil er alles vollgestopft hat, in meiner Tasche und finde, zu meiner Überraschung, tatsächlich noch ein unbenutztes Heftpflaster. Wenn Mary morgen zur Apotheke fährt, muss sie mir unbedingt neue mitbringen. Oder mich mitnehmen.

Fachmännisch klebe ich das Pflaster auf die Wunde und setze mich kurz aufs Bett, damit sich mein Kreislauf durch den Blutverlust nicht überanstrengt. Während meine Gedanken noch um meinen Unfall kreisen, fangen meine Augen den kleinen Schreibtisch ein und bleiben an der verschlossenen Schublade hängen. Ob da wohl was drin ist? Wahrscheinlich noch mehr Spinnen. Oder eine Schlage!

Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, denn ich brauche die Schublade ja nicht, aber meine Neugier ruft mich. 'Ian! Willst du nicht wissen, was da drin ist? Vielleicht eine Karte, für einen versteckten Schatz! Oder ein Zweitschlüssel für Rogers Zimmer?' Ich lache. Das wäre tatsächlich eine feine Sache. Wie viel Unsinn könnte ich anrichten, wenn ich einen Zweitschlüssel für Rogers Allerheiligtes hätte? Denn seit der Sache mit dem Heftchen, herrscht beim Junior eine 'Closed Door Policy', die natürlich vorrangig mir gilt.

Habe ich nicht vorhin in dem Werkzeugkoffer ein Stemmeisen gesehen? Bevor ich hier rumsitze und warte, dass Roger wiederkommt, kann ich auch ein wenig arbeiten und die Schublade reparieren... Mary kann mich mit meiner Verletzung sicher eh nicht mehr zum Schnippeln gebrauchen...

Keine Zehn Minuten später stehe ich wie erstarrt vor der geöffneten Schreibtischschublade

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Keine Zehn Minuten später stehe ich wie erstarrt vor der geöffneten Schreibtischschublade. Es war nicht so schwer sie zu öffnen, wie ich gedacht hatte. Aber dass ich tatsächlich etwas darin finden würde, hat mich überrascht. Und weil mich das schlechte Gewissen überkommt, traue ich mich nicht, den Brief, der eindeutig an 'Roger' adressiert ist, herauszunehmen.

Die Handschrift ist klein und sauber, mit einigen Schnörkeln und hinter dem Namen hat der Absender ein kleines Herz gezeichnet. 'Vielleicht auch eine Absenderin', korrigiere ich mich und überlege, ob dieses Tischchen vielleicht Mrs. Mackay gehört haben könnte. Unwillkürlich stelle ich mir vor, wie vor etlichen Jahren in genau diesem Zimmer eine Frau, die Rogers Mutter gewesen ist, an genau diesem Schreibtisch gesessen und diesen Brief verfasst hat. Einen Brief an ihren Sohn... Einen Abschiedsbrief?

Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Warum schreibt ein Elternteil einen Brief an sein Kind, mit dem er unter einem Dach wohnt? Wohl doch nur, um etwas Wichtiges mitzuteilen. Was war damals mit Mrs. Mackay passiert? Warum und wie war sie gestorben? Und hatten die Umstände vielleicht Auswirkungen darauf gehabt, dass Roger nie mehr wieder hierher zurückwollte? Fragen über Fragen. Aber ich konnte sie niemandem stellen. Das Einzige, was ich konnte, war, den Brief zu lesen.

Wie Mann einen Cowboy zähmtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt