23 | Pläne

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Roger kann noch immer nicht glauben, dass seine Mutter diesen Schatz so lange vor ihm und seinem Vater versteckt hatte. Während wir zu den Schafen reiten, um diese zusammenzutreiben und zum Hof zu bringen, philosophieren wir darüber, was passiert sein könnte. Und obwohl uns dutzende Ideen kommen, wo der Schatz herkommt, so sind wir uns einig, dass nur Flynn Mackay die Antwort auf diese Frage kennen könnte.

„Du solltest auf jeden Fall zu ihm fahren", sage ich aufmunternd. „Er will dich sicherlich sehen und dann kannst du ihn fragen."
„Ich fahre nur, wenn du mitkommst", entgegnet er. Unwillkürlich muss ich lächeln. „Und wer passt hier auf alles auf?", will ich wissen. Doch Roger scheint bereits alles geplant zu haben. „Carl ist morgen wieder da und soll hier aufpassen, solange wir in die Stadt fahren. Wir besuchen meinen Vater und dann bleibe ich bei ihm. Du fährst mit Mary zum Hof zurück und ich komme mit meinem Vater nach, sobald er sich erholt hat."

„Und wann soll das sein?" Die Frage verhallt unbeantwortet in der Ferne der Landschaft. Roger weiß so gut wie ich, dass sein Vater zu krank ist, um zurückkommen. Sogar Flynn Mackay und Mary wissen es. Denn wenn es anders wäre, hätte mich der Senior nicht auf den Hof geholt, um ihn zu unterstützen, während er dabei ist die letzten Dinge abzuwickeln und Roger wäre nicht aufgetaucht, um noch ein wenig bei ihm zu sein.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wie Roger sich gefühlt haben muss, als er von dritten erfahren hat, dass sein Vater sich für seine letzten Tage Hilfe von einem Fremden holt, kann ich nun besser nachvollziehen, warum er eine solche Wut auf mich gehabt hatte.

Ja, er hat den Hof verlassen. Jedoch nur, weil alles daran ihn an seine Mutter erinnert hat. Die Mutter, die - wie er bis gestern glaubte - ohne Abschied gegangen war. Für dessen Tod er sich insgeheim mitverantwortlich gefühlt hatte. Er hatte gehen können. Doch Mr. Mackay Senior hatte diese Möglichkeit nicht gehabt. Er war mit dem Hof verbunden, sein gesamtes Vermögen steckte im Grund und Boden. Und selbst, wenn er es übers Herz gebracht hätte, zu verkaufen, was hätte er sonst tun können? Er war nun mal Farmer und hatte für das Stadtleben nicht allzu viel übrig. Ob er Roger dort jemals besucht hatte?

„Alles in Ordnung, Cowboy? Du bist so schweigsam", fragt Roger, als wir mit den Schafen am Hof ankommen. „Ich war nur in Gedanken", gebe ich zu und zwinge mich zu einem Lächeln. Doch die Wahrheit ist, dass mich diese Familientragödie traurig stimmt. Was hätte aus dem Hof werden können, wenn Roger den Brief schon vor vielen Jahren gefunden hätte? Und mit ihm den Schatz? Wäre er dann geblieben und Farmer geworden? Wäre er dann jetzt glücklicher als heute? Oder war es vielleicht gut, dass er gegangen ist, weil ihm die Stadt viel besser gefällt?

Zumindest hätte er dann wahrscheinlich mehr Zeit mit seinem Vater verbracht. Zeit, die uns beiden mit unseren Vätern verwehrt geblieben war. Und auf einmal wird seine Tragödie auch zu meiner. Plötzlich drängen sich Bilder aus längst vergessenen Tagen in meinen Kopf. Aus meiner Kindheit mit meiner Familie.
Von meinem Vater, der mich zu meinem ersten Rodeo mitnimmt. Der mich auf die Schultern hebt, damit ich über die Menge hinweg die jungen Kerle beobachten kann, die wilde Brumbies reiten, bis sie abgeworfen werden.
Vom Duft nach Popcorn, dass mein Vater mir nach langem Betteln kauft.
Von Sonne auf der Haut, die an diesem Tag so erbarmungslos auf uns hinab scheint, dass mein Vater mir seinen Hut gibt, den ich auch jetzt noch jeden Tag trage.
Von staubigem Sand unter unseren Schuhen, als wir uns die Rinder ansehen, die zum Verkauf stehen.
Und daran, wie ich auf der Rückfahrt auf der langen Vorderbank des alten Chevys, den Kopf auf dem Schoß meines Vaters, müde aber unendlich glücklich, einschlafe.

„Hey, Ian, du siehst gar nicht gut aus. Du bist ganz blass", stellt Roger fest als wir das Gatter hinter den Schafen schließlich, die nun, nicht weit vom Hof die Möglichkeit haben, sich unterzustellen. Außerdem ist es so für mich und Carl einfacher, auf sie zu achten, wenn wir die nächsten Tage eventuell alleine sind. „Ian?!", fragt Roger erneut und ich nicke.
„Ja, ich bin etwas erschöpft. Es tut mir leid, es ist so schwül heute", weiche ich aus.

„Du musst dich nicht entschuldigen, Ian! Wir haben ein paar anstrengende Stunden hinter uns. Komm, ich mache uns Mittag!" Damit nimmt er mich an der Hand und geht mit mir ins Haus. Mit jedem Schritt, den er mich festhält, wird meine Laune besser. Ich löse die Berührung nur kurz, um meine Finger zwischen seine zu schieben und so noch mehr von ihm zu spüren. Aus dem Augenwinkel sehe ich ihn lächeln. Es ist ein zufriedenes Lächeln. Eines, das sagt, ich bin gerade sehr glücklich. Und ich glaube, es ist nicht nur wegen des Schatzes, den er nun in der anderen Hand festhält, sondern vielleicht auch ein kleines bisschen wegen uns, weil wir uns nicht nur vertragen, sondern auch endlich füreinander geöffnet haben.

 Und ich glaube, es ist nicht nur wegen des Schatzes, den er nun in der anderen Hand festhält, sondern vielleicht auch ein kleines bisschen wegen uns, weil wir uns nicht nur vertragen, sondern auch endlich füreinander geöffnet haben

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Auf Anweisung von Roger sitze ich auf meinem Stuhl am Küchentisch, während er uns Nudeln kocht. Sein Argument, es wäre noch so viel Soße vom Vortag übrig, ist wohl die bequeme Ausrede dafür, noch einmal Nudeln zu kochen. Mir soll es recht sein.

„Erzählst du mir, was los ist?", fragt Roger, als er schließlich die Teller vor uns abstellt. Ich bin  geneigt „Nichts" zu antworten, kann mir aber denken, dass er diese Antwort nicht durchgehen lassen wird. Ich will aber auch meine Vergangenheit jetzt nicht zum Thema machen, haben wir doch schon genug zu tun mit seiner.

"Roger", weiche ich dem Thema aus und werfe eine neue Frage auf. "Was ist das mit uns?" Roger sieht mich zweifelnd unter seinen dichten Augenbrauen an. "Ich dachte, ich hatte meinen Standpunkt diesbezüglich klar gemacht", sagt er ernst.
Habe ich etwas Falsches gesagt? Irgendwie habe ich grade das Gefühl, ich hätte lieber nicht gefragt.
„Ist auch nicht so wichtig...", rudere ich zurück und esse brav meine Nudeln weiter. Ich möchte mich nicht wieder mit Roger streiten. Über den Punkt sollten wir inzwischen hinweg sein.
„Nein, es ist wichtig!", sagt Roger streng, steht auf und geht um den Tisch herum auf mich zu. Er zieht einen Stuhl direkt neben meinen und setzt sich so darauf, dass er mich ansehen kann.

„Gestern, als du genau auf diesem Tisch gesessen hast, habe ich dir gesagt, dass man mich ganz oder gar nicht hat. Und du hast gemeint, dass du jemandem erst vertrauen musst. Ich habe dir meine Geschichte erzählt. Und du hast dich mir ganz und gar anvertraut. Für mich ist die Sache damit klar."
Während er redet, verstehe ich erst gar nicht, was er sagt, bis es mir dämmert. „Meinst du damit... also willst du sagen, dass... ich meine, wir beide...?", stammele ich unbeholfen. Roger lächelt belustigt und nimmt dann mein Gesicht in seine großen, weichen Hände. Es macht sich doch bezahlt, dass er keine Schwielen vom Arbeiten hat.
Mit großen Rehaugen sieht er mich an. „Ian? Möchtest du mein fester Freund sein?"

Wie Mann einen Cowboy zähmtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt