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Enolas Sicht:

So langsam breitete sich die Nervosität auch in mir aus, die bei Kai schon, seit dem Starten des Automotors, zu sehen war. Es fiel mir schwer, ihn so zu sehen.

"Hey Kai, alles wird gut okay?" versuchte ich ihn aufzubauen. Er starrte regungslos weiter durch die Frontscheibe. Ich seufzte schwer und konzentrierte mich wieder aufs Fahren. Ich sah im Augenwinkel, wie Kai zu mir rüber schaute, ignorierte es aber und tat so, als müsste ich mich sehr auf das Autofahren konzentrieren. Ich wusste genau, dass das nicht stimmte, aber ich konnte ihm jetzt nicht in die Augen sehen. Da war zu viel zu sehen, was ich nicht sehen wollte, weil es mich traurig machte.

Ich kannte Kai seit dem Kindergarten und wir waren mit Jule das coolste Trio, das Bremen je gesehen hatte. Haben wir uns jedenfalls damals eingeredet. Kai ist drei Jahre jünger als Jule und ich, aber irgendwas hat uns so eng zusammen gebracht, sodass wir uns für immer geschworen haben Freunde zu bleiben und für einander da zu sein. Als Kai zehn Jahre alt war, hielten es seine Eltern für richtig, nach Köln zu ziehen. Einerseits, weil sie dort mehr Geld verdienten und andererseits gab es dort ein leistungsorientiertes Sportgymnasium, damit Kai sein Fußballtalent erweitern konnte. Jule und ich setzten alles daran, dass Kai in Bremen bleiben würde, aber unser Widerstand war zwecklos. Unsere Freundschaft ging in die Brüche und Jule hasste Kai dafür. Es war eine schlimme Zeit für uns drei. Wir hatten kaum Kontakt zu Kai, weil er ständig mit seinen sportlichen Leistungen und generell mit dem hohen Niveau an der neuen Schule beschäftigt war. Es brach mir das Herz mit anzusehen, wie Kai und Jule sich immer mehr auseinander lebten. Und ich stand zwischen den beiden.

Als Julian die große Chance ergriff, 2014 zu Bayer04Leverkusen zu wechseln, versuchte ich wieder mehr Kontakt zu Kai aufzubauen. Ich war nie auf ihn sauer, weil ich ihn irgendwie verstehen konnte und er ja nun wirklich nicht daran Schuld war, dass er weggezogen ist. Er war ziemlich froh, wieder mehr von mir zu hören und entschuldigte sich so oft bei mir, dass er in den letzten Jahren nie wirklich für mich da war. So wuchsen wir über die Jahre wieder eng zusammen. Jule fand das irgendwann heraus und war ziemlich enttäuscht darüber, weil wir es ihm nie erzählt hatten.

2017 bekam auch Kai das Angebot als Profifußballer bei Leverkusen zu spielen. Es war am Anfang echt schwer für Kai, weil Jule immer noch den Abstand suchte. Aber Zeit heilt ja "vermeintlich" alle Wunden.

Die beiden spielten auf dem Platz perfekt zusammen und gaben Das Duo der Bundesliga ab. Jedoch gingen sie sich im privaten Umfeld weiter aus dem Weg. So perfekt sie auch zusammen in der Öffentlichkeit dar gaben, insgeheim konnten sie sich nicht leiden. Sie waren beide zu stur und stolz um sich einzustehen, dass sie sich beide wie Kleinkinder aufführten. An jenem Tag, an dem groß verkündet wurde "SUPERSTAR JULIAN BRANDT WECHSELT ZUM BVB- MUSS SICH DAS DUO DER BUNDESLIGA JETZT TRENNEN?", gab es zwischen ihm und Kai einen riesigen Streit. Kai wollte nicht wahrhaben, dass Jule und er schon wieder getrennt wurden und Jule machte ihn dafür verantwortlich, dass unsere Freundschaft damals zu Bruch ging. Ich stand zwischen ihnen und konnte absolut nichts dagegen machen. Sie warfen sich so viele Sachen an den Kopf und rissen damit so viele alte Wunden auf und hätte ich nicht ihren Trainer angerufen (die beiden hatten eine sehr enge Beziehung zu ihm) und ihn um Hilfe gebeten, ich will mir gar nicht vorstellen, was noch passiert wär. Jule hatte noch an dem selben Abend seine ganzen Sachen gepackt und ist einfach abgehauen. Kai war in einen Club gegangen und hat sich mit Freunden betrunken. Keiner der beiden redete mir mir weder noch miteinander für mehrere Monate. Gezählt hab ich sie nie, damit hatte ich irgendwann aufgehört.

In ihrer fußballerischen Leistung merkte man das den beiden allerdings in keinster Weise an. Zumindest nicht die Fans und Öffentlichkeit. Auch der Streit war privat geblieben. Dafür sorgte der Trainer höchstpersönlich, weil er den beiden das ganze Drama ersparen wollte. Und das funktionierte auch gut, denn die zwei konzentrierten sich vollkommen auf die Zukunft und Karriere und bis jetzt scheint diese Taktik auch zu funktionieren. Es wirkte auf mich fast schon wie ein Wettkampf: Wer war heute der bessere Spieler auf dem Platz?

Jule gab zwar immer wieder vor, dass alles in Ordnung sei, aber jeder, der davon wusste, weiß das es nicht so ist. Kai sprach überhaupt nicht gerne über das Thema aber ich wusste, dass Jule ihm trotzdem alles bedeutete und es ihn innerlich zerriss. Er gab sich komplett die Schuld für alles und hasste sich dafür so sehr. Auch wenn er sowas natürlich nicht sagte und zugab, man sah es ihm an.

Die beiden sind mittlerweile mehr als erwachsen und so langsam halte ich das nicht mehr aus. Weder Jule, der mit niemandem so wirklich darüber reden wollte noch Kai, dem es mental so scheiße ging. Es brach mich auch und es war Zeit das alles endgültig zu klären und sich auszusprechen.

"Wir sind da" brachte ich stockend hervor und setzte mich so, dass ich Kai gut sehen konnte. Er drehte sich zu mir.

"Kai, ich-"

"Lass uns gehen und das klären, bevor ich mir es anders überlege."

Ich nickte nur und zog meine Kappe unbewusst in wenig tiefer ins Gesicht. Ich spürte, wie eine Panikattacke in mir hoch kroch, doch bevor ich irgendwas sagen oder fühlen konnte, war Kai auch schon ausgestiegen und hatte geklingelt. Ich sah ihm dabei nur mit angehaltenem Atem zu.

"Kai! Wie lange ist es her, dass ich dich gesehen habe? Sieh dich an, wie groß du geworden bist! Komm, lass dich mal drücken." empfing Ma Kai.

Ich schluckte die Panik runter, atmete einmal tief durch und stieg aus.

"Home sweet home..." flüsterte ich mir selbst zu und ging zum Haus. Kai war immer noch in die Umarmung von Ma verwickelt und so sah sie mich, über Kais Schulter hinweg, auf sie zulaufen (Kai stand mit etwas gekrümmten Rücken, damit Ma um seinen Hals kam. Es sah schon ein wenig komisch aus, wie sie so dastanden.)

"Enola mein Kind! Schön Dich wieder zu Hause zu haben!" Sie löste sich aus der Umarmung mit Kai, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und machte Platz, damit er schonmal ins Haus gehen konnte. Sie lief mir entgegen und umarmte mich so fest mit ihren Armen, wodurch ich nicht die geringste Chance hatte, die Umarmung als erstes zu beenden.

Anders als bei Kai, ließ ich diesmal nicht meine Gefühle über meinen Verstand herrschen. Auch wenn es das Schwerste war, was ich jemals tuen musste. Aber ich konnte das jetzt einfach nicht zulassen, die Stimme in mir sagte, dass es nur Schwäche zeigen würde und es nicht richtig wär.

"Oh Schatz, wie sehr ich dich doch vermisst habe! Und so wunderschön wie immer!"

"Ma, das sagst du jedes Mal..." antworte ich ihr und rolle spielerisch mit den Augen.

"Und ich meine es jedes Mal ernst."

Vorsichtig nahm sie mir die Cap ab und strich eine Strähne hinter mein Ohr. In meinen Augen sammelten sich die ersten Tränen und ich könnte schwören bei Ma auch gläserne Augen zu sehen. Zu unserem Glück war es schon dunkel, weshalb ich hoffte, mich getäuscht zu haben. Ich kann nicht gut damit umgehen, wenn Menschen vor meinen Augen, anfangen zu weinen. Vor allem, wenn ich der Grund dafür war. Es machte mich traurig und erinnerte mich immer daran, wie ich als kleines Kind meinen Dad weinen sehe habe.

"Na komm, lass uns mal reingehen" sagte endlich Ma die Worte, die die unangenehme Stille beendeten.

Aus dem Wohnzimmer konnte man schon zwei Stimmen hören, womit ich mir bestätigte, dass Kai mit dem Klingeln, womöglich Jule aufgeweckt haben könnte. Instinktiv spannte sich wieder mein ganzer Körper an.

Doch statt aufgebrachte, wütende Stimmen zu hören, vernahm ich: Lachen.

Kai lachte.

Und mit ihm Jannis.

Mir wurde warm ums Herz.

Als ich vorsichtig näher kam, spürte ich, wie sich wie von selbst, ein Schmunzeln auf meinen Lippen bildete.

Und dann stand ich im Türrahmen.

BVBrandtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt