[2] Neue Ufer

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Die Zeit bis zum ersten Training verging schneller, als ich dachte: Am nächsten Tag kümmerte ich mich darum, San Juan wirklich kennenzulernen. Fernab der Hauptstraßen und Einkaufsmeilen spazierte ich durch den May Park, eine vor über einhundert Jahren in Gedenken der Mairevolution errichtete Grünanlage. Ich ließ die dortigen Statuen, den See und die Leute auf mich wirken, besuchte im Anschluss ganz in der Nähe die Casa Domingo Faustino Sarmiento, den Geburtsort des gleichnamigen Präsidenten im 19. Jahrhundert, und lernte ein wenig über die Geschichte der Stadt und Argentiniens. Schließlich machte ich Halt beim Platz des 25. Mais, um mich bei einem Kaffee und kleinem Snack auszuruhen und danach der Kathedrale der römisch katholischen Kirche einen Besuch abzustatten. Ich war weder religiös noch besonders an der Architektur interessiert, aber da ich schon einmal hier war, wollte ich einen Blick hineinwerfen. Es brauchte nur einen Schritt in das riesige Gebäude, um von Ehrfurcht erfüllt zu werden, aber ich fühlte mich auch seltsam geerdet.

Als ich abends heimkam, erwartete mich meine Vermieterin zudem mit einem Willkommensessen, das sie nicht angekündigt hatte und eine passende Überraschung darstellte: Es gab eine Platte verschieden gefüllter Teigtaschen, Empanadas, und eine Schüssel mit Salat sowie andere regionale Kleinigkeiten, die mir bislang unbekannt waren. Der Usus, dass man hierzulande erst spätabends warm aß, war mir hingegen gängig, denn auch in meiner Familie hatten wir es so gehalten.

Almara Fernandez gab ihr Bestes, auf Englisch zu sprechen, um es mir leichter zu machen. Immer mal wieder entfielen ihr jedoch die nötigen Worte und sie switchte zurück ins Spanische. Schließlich wurde es ein buntes Gemisch beider Sprachen, mit denen wir uns verständigten. Manchmal kamen noch Hand und Fuß dazu.

Trotz dieser Lockerheit und dem ein oder anderen Lacher, wenn uns die Fragezeichen über den Köpfen hingen, tat ich mich schwer, sie einfach mit ihrem Vornamen anzusprechen. Dies war nun echt nichts, was ich in meinem Naturell als Japaner tun konnte, selbst wenn ich anderen Leuten Spitznamen gab! Das tat ich schließlich nicht bei Fremden, also wehe einer lacht, dass ich mir so anstellte!

Dafür nagte mein ständiges Señora Fernandez aber auch an der Geduld der älteren Dame und ganz plötzlich kam ihr eine Idee, mit der wir fortan beide leben könnten: „Abuela!"

Abuela bedeutete Großmutter. Das war sie für mich natürlich nicht, aber wir bezeichneten bei uns die älteren Frauen ebenfalls als Obaa-san, und das machte es für mich annehmlicher. Es ließ sogar ein zartes Heimatgefühl aufkommen und damit etwas Selbstsicherheit.

Diese konnte ich gut gebrauchen, als schließlich der Tag der Wahrheit kam und ich an meinem dritten Morgen in San Juan strammer als zu meiner Einschulung vor der großen gläsernen Eingangstür der Turnhalle stand. Nein, falsch: Eigentlich kam ich mir wirklich so vor, als startete wieder die erste Klasse der Grundschule!

Komm schon, Tooru! Das packst du! Noch einmal tief durchatmend und den Kloß der Aufregung in meinen Hals herunterschluckend, stieß ich am länglichen Metallgriff die schwere Tür auf und setzte den ersten Schritt in den kühlen Korridor des Gebäudes. Meine Augen suchten nach dem Dienstraum des Sportwarts, bei dem ich mich gewiss als Gast anmelden müsste, aber als ich dessen Büro nach wenigen Metern erreichte, erwartete mich nur eine verschlossene Tür. Hervorragend. Damit gestaltete sich die Frage, wo ich nun hinmüsste? Und wie ich zu diesem Wo fände? Ich hatte per Mail nur eine Zeit genannt bekommen und dass mich José Blanco persönlich einweisen würde. Umgezogen war ich schon, da ich das noch daheim erledigt hatte und nur die Schuhe wechseln müsste, sobald es in die Halle ging.

Jedenfalls befand sich hier außer mir keine Menschenseele. Ich entschied mich, weiter den Korridor hinabzugehen. Irgendwann müsste ich bestimmt eine der Türen zum Inneren der Halle erreichen und könnte dort den Kopf hineinstecken. Dumpfe und quietschende Geräusche von Schuhsohlen auf Vinylboden erzählten mir zumindest davon, dass ich nicht vollkommen allein wäre. Zu meiner allgemeinen Nervosität gesellte sich die gewohnte Vorfreude, als ich mich der ersten Tür näherte und sie einen Spalt öffnete. Sofort strömte mir der bekannte Geruch des Hallenbodens entgegen und ließ mein Herz beschwingter schlagen.

B-Side: Argentinian BluesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt