Prolog - Der Erkstag

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Berlin, Bekannt für Sehenswürdigkeiten wie den Alexanderplatz, das Brandenburger Tor oder den Reichstag, bildete sich oft ein, eine schöne Stadt zu sein. Doch wer einmal den belebten und modernen Stadtkern verlassen und die anderen Teile der Hauptstadt kennengelernt hatte, der tat sich schwer, eine Stadt mit solchen Vierteln als schön zu betiteln. Heruntergekommene Häuser, zerbrochene Parkbänke, überlaufende Mülltonnen und leere Gesichter prägten hier das Stadtbild.

Die Bevölkerung schien sich jedoch an diese Situation so gewöhnt zu haben wie an den Pullover, der seit drei Tagen auf dem Fußboden liegt. Und manche Personen waren sogar froh, dass es diese zwielichtigen Armutsviertel gab. Denn in diesen Gegenden waren mit den Jahren so viele hässliche Bauwerke erbaut oder durch halbherzige Umbauten verschlimmbessert worden, dass da ein mysteriöses Gebäude mehr oder weniger nicht auffiel. Selbst das geschulte Auge tat sich schwer damit, den geheimen Zugang zum deutschen Zaubereiministerium in der Kartoffelbude zu finden. Und Erwin Orths Schlangenauge bemerkte auch nur der, der es bemerken sollte.

Erst recht niemand wusste, was es mit der geschlossenen U-Bahn-Station auf sich hatte, die in einer heruntergekommenen und renovierungsbedürftigen Altbausiedlung stand. Die Sonne schien auf das völlig verwitterte Kein Eingang-Schild vor der Treppe, die zu den U-Bahn-Schienen verlaufen sollte. Doch zwischen dem Imbisswagen, dem Deutsch-Rap, der aus der Aktivbox einer Gruppe Jugendlicher schallte und den zahlreichen Graffitis an der Wand, die mit ihren Fratzen und Schriftzügen so wirkten, als wollten sie die Sonne aus dieser zwielichtigen Gegend verscheuchen, fiel dieses unscheinbare Schild und die dahinterliegende Treppe niemandem auf.

Zwar hatte es Imbissbude, Aktivboxen und Graffitis vor einhundertzwanzig Jahren noch nicht gegeben, aber schon damals hatten kluge Köpfe erkannt, wie gut man in dieser Gegend etwas Großes verstecken konnte, was niemand bemerken sollte. Und so war der Erkstag entstanden. Das Massengefängnis in Form einer riesigen, steinernen Wendeltreppe hatte sich schnell einen Namen in der Bevölkerung gemacht, vor allem wegen des unmenschlichen Umgangs mit den Gefangenen. Offiziell hatte man das Gefängnis daraufhin geschlossen. Aber das Deutsche Zaubereiministerium hatte Unmengen an Geld in den Kauf und den Transport des Mantikors gesteckt. Und es gab immer noch genügend ungewünschte Hexen und Zauberer. Also wurde das Gefängnis im Geheimen weiterbetrieben. Und auch Grindelwald ließ sich die Möglichkeit, unerwünschte Personen still und heimlich verschwinden zu lassen, nicht nehmen.

Doch nach Grindelwalds Niederlage wurde der Erkstag endgültig stillgelegt. Reinhard Spielman, der das Amt des deutschen Zaubereiministers übernahm, war zutiefst beschämt darüber, dass etwas dermaßen Grauenhaftes wie der Erkstag über Jahrezehnte in Deutschland existiert hatte. Er selbst hatte oft die Briten dafür kritisiert, dass Askaban unmenschlich sei. Wie sollte er jemals wieder von irgendwem ernst genommen werden, wenn ans Licht kam, dass im deutschen Pendant zu Askaban nicht Dementoren, sondern ein menschenfressender Mantikor für Recht und Ordnung gesorgt hatte? So eine Schmach konnte er sich auch in seinen alten Tagen nicht leisten. Und daher blieb der Erkstag sein Geheimnis. Um sein schlechtes Gewissen zu besänftigen, traute er sich einmal im Jahr in die Höhle des Löwen, um zu sehen, dass auch wirklich niemand mehr dort unten seine Feinde mit der Gefangenschaft an diesem Materort folterte. Doch als er 1954 bei einem Anschlag ums Leben kam, starb mit ihm auch das Wissen über den Erkstag.

Aber mit Geheimnissen ist es nunmal so, dass man sie nie wieder aus der Welt bekommt, wenn sie einmal freigelassen wurden. In schwarzmagischen Kreisen lebte der Erkstag als Gerücht weiter, wie bei Muggeln die Stadt Atlantis. Und 65 Jahre nach Spielmans Tod betraten zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Menschen das verlassene Gefängnis. Im Licht ihrer Zauberstäbe konnte man die Umrisse eines vermummten Mannes und einer auffallend hübschen Frau entdecken.

»Und du bist sicher, dass wir nicht gleich von diesem Ungetüm aufgefressen werden?«, fragte Celia Ivyng skeptisch.
Die Lippen von Titus Pettigrew formten sich zu etwas, das fast schon einem Lächeln glich, während er mit dem Licht seines Zauberstabs in den Abgrund leuchtete. Riesige Knochen blickten ihnen entgegen. Celia betrachtete das Gerippe des Mantikors mit Argwohn.
»Und du bist sicher, dass keine anderen hier sind?«
Statt einer Antwort flüsterte Titus ein »Bestiam revelio« und vollführte eine geschickte Drehbewegung mit seinem Zauberstab.
»Siehst du irgendetwas?«, fragte er mit einer präsentierenden Geste. Im nächsten Moment stieß er allerdings einen erschrockenen Schrei aus. Sein Blick wanderte an seinen Bauch, wo er eben ein plötzliches Zwicken verspürt hatte. Als er Celias Hand und das schelmische Grinsen auf ihrem Gesicht entdeckte, konnte auch er ein Lachen nicht mehr zurückhalten.

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