Kapitel 19 - nahezu unvorstellbar

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Frau Castor hätte genauso gut mit einem Stein sprechen können. Natürlich versuchten die jungen Haistras, eine andere Öffnung für den Geheimgang zu finden. Schließlich hatte Filio erzählt, in der Nähe des Klassenraums der Haistras aus dem vierten Jahrgang wäre noch ein Eingang gewesen. Daher gingen sie in den nächsten Wochen immer wieder in besagten Korridor, doch finden konnten sie nichts, außer einem weiteren Bild von Hans-Herbert Grindelwald.

Nach einigen Nachmittagen gaben sie die Suche frustriert auf. Und dann kam etwas, das für Jan mittlerweile nahezu unvorstellbar geworden war: Eine ganz normale Schulzeit. Im gesamten Zeitraum zwischen den Herbstferien und den Winterferien geschah nichts Beunruhigendes. Es tauchten keine vermeintlichen Ministeriumsangestellten auf dem Schulgelände auf. Es verschwanden keine Lehrer. Und es gab auch keine Erkling-Angriffe mitten auf dem Schulgelände.

Der Schulalltag verlief, wie er ohne Titus Pettigrew vermutlich auch im Jahr geworden wäre. Die Briefe von Jans Eltern enthielten allesamt das Codewort ›Briefmarke‹ und der Schreibstil passte zu ihnen. Und anstelle sich Sorgen über eine Belagerung machen zu müssen, konnte sich Jan über ganz weltliche Dinge den Kopf zerbrechen, wie zum Beispiel die nächste Englischarbeit. Oder das mehr als freundschaftliche Verhältnis zwischen Leif und Marina.

Hatte Pettigrew also wirklich aufgegeben, nachdem sie Winterfels verlassen hatten? Jan konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Aber auch die tägliche Eule, die nach wie vor den Kiosk-Korridor zierte, schrieb nichts über den Schwerverbrecher. Stattdessen war der Wahlkampf das Top-Thema in den Medien. Und darin wiederum war die Schule Winterfels immer wieder ein wichtiger Konfliktpunkt.

Während Haas' Regierungspartei Lindjon darauf bestand, den Standort der Schule geheim zu halten, prangerte Valeria Assmann das scharf an. Sie behauptete immer wieder, Haas spiele mit der Sicherheit seiner Bevölkerung und beraube sie seiner Freiheit. Ihre Neue Zukunft schaffte es damit zu einem unglaublichen Erfolg. Innerhalb weniger Wochen verdoppelte sie ihre Umfragewerte und Experten waren überzeugt, dass sie Haas und seine Lindjon-Partei bald überholt hätte.

Jan hatte sich nie sonderlich für Politik interessiert, aber dieser Wahlkampf beschäftigte auch ihn. Er wusste, wie gut das Verhältnis zwischen Herrn Tuplantis und Minister Haas war. Und Jan war besorgt, was mit der Schule geschehen würde, wenn Assmann Zaubereiministerin werden würde. Würde sie die Schüler zurück nach Winterfels schicken? Und waren sie da wirklich sicher vor Pettigrew?

Doch bis zur Wahl war noch Zeit. Der 22. Februar lag für Jan noch in weiter Ferne und so lange Herr Haas noch Zaubereiminister war, wollte er sich auch keine Sorgen machen, was bei einem Regierungswechsel geschehen sollte. Wählen durfte er schließlich sowieso nicht, dafür war er noch drei Jahre zu jung. Mit diesem Gedanken schaffte er es, auch diese Unsicherheiten aus seinem Kopf zu verbannen und sich einfach eine schöne Schulzeit mit seinen Freunden zu machen. Viel zu schnell gingen die Wochen vor den Ferien vorbei und Jan war völlig erstaunt, als Hannes eines Donnerstags begann, seinen Koffer zu packen.

»Morgen geht es nach Hause«, antwortete der auf Jans verwunderten Blick. »Schon vergessen?«
Jan schüttelte hastig den Kopf. Natürlich hatte er das nicht vergessen. Am Montag hatte er doch noch einen Brief seiner Eltern bekommen, die ihn gefragt hatten, ob er irgendwelche besonderen Wünsche hatte. Aber so ganz glauben, konnte Jan noch nicht, dass er wirklich ein Vierteljahr erlebt hatte, ohne eine Bedrohung von außerhalb. Ein breites Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, während auch er mit Kofferpacken begann. Seine Eltern würden sicherlich nie wieder zweifeln, ihn auf eine Zaubererschule zu schicken.

Seine Begeisterung schwand am nächsten Mittag, als er erfuhr, dass sie für ihre Heimkehr zwei Porttüren benutzen mussten. Zuerst die in den Eulentunnel nach Winterfels und dann die in der Grünen Hütte Richtung Villa Hohenthal. Sofort legte Jan den Löffel, mit dem er sich gerade eigentlich noch etwas zu essen hatte nehmen wollen, zurück in die Auflaufform. Die Reise würde auch ohne zusätzliches Gewicht im Magen eine Tortur werden.

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