Kapitel 32 - Ein Lügner

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Arnold Goldenberg blickte auf seine Taschenuhr. Neben der Uhrzeit zeigte sie auch die aktuelle Temperatur in seiner Heimatstadt Greifswald, die Spielstände zurzeit laufender Quidditchspiele und das Datum an. Da kein vernünftiger Mensch montags mittags Quidditch spielte, konnte man letztgenanntes aktuell etwas größer lesen. Der 6. April 2020. Noch vor zwei Jahren hatte er am Nachmittag dieses Tages auf seinem Besen gesessen und das Spiel Haistra gegen Kesten gepfiffen. Es war das erste Spiel gewesen, in dem Fiete Beck Kapitän gewesen war und Herr Goldenberg hatte sich seiner Neutralität zum Trotz unfassbar für den damals noch blutjungen Schüler gefreut, als er mit seinem Schnatzfang Haistra einen Sieg beschert hatte.

Herr Goldenberg selbst war damals noch einfacher Lehrer gewesen, verantwortlich für die Fächer Deutsch und Flugunterricht, und eben hin und wieder Schiedsrichter. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, dass er genau zwei Jahren später, als Schulleiter am Mittagstisch sitzen würde und es irgendwie hinbekommen musste, eine ganze Schülerschaft heimlich zu verstecken. Die Aufgabe fühlte sich an, als wäre sie eine perfekte Herausforderung für einen Helden - für jemanden wie Herrn Tuplantis.

Aber er selbst fühlte sich immer noch wie der Schiedsrichter, der vor zwei Jahren einen Triumphschrei zurückhalten musste, als Fiete Beck dem Sucher der Kestens den Schnatz vor der Nase weggeschnappt hatte. Seine Umhänge trugen immer noch das gleiche Himmelblau, seine Post brachte ihm noch immer sein Flughund Rodriguez und für seine Frisur brauchte er noch immer mindestens eine Viertelstunde pro Morgen. Nein, er hatte sich nicht geändert - viel mehr waren es die Umstände, die sich wandelten als seien sie ein Chamäleonghul. Und die ihn dazu zwangen, heute Morgen nicht nur ein Schulleiter zu sein, sondern auch ein Lügner.

Wenn er bei dieser Aufgabe scheiterte, dann brachte er das Wohl, ja sogar das Leben seiner Schüler ernsthaft in Gefahr. Obwohl noch kein Essen zu sehen war, nahm er das Besteck neben seinem Teller in die Hände und rieb die Gabel nachdenklich über die Klinge des Messers. Wie stark das Besteck dabei klirrte, zeigte ihm, dass er zitterte. Eilig legte er Messer und Gabel wieder auf den Tisch und versuchte, dem Gespräch von Herrn Hausmann und Frau Relting neben sich zuzuhören.

»Ich finde ja, dass Geranien und Flitterblumen gemeinsam eine schöne Kombination abgeben«, meinte Herr Hausmann gerade. »Am schönsten, wenn sie in verschiedenen Rot- und Orangetönen blühen.«
Sie redeten ganz offensichtlich über Gartengestaltung. Ein Thema, in dem sich Herr Goldenberg getrost als absoluter Laie bezeichnen konnte.
Gedankenverloren holte er sein Multi-Zwillingsbuch aus seinem Umhang hervor. Das Post-it für das Gesprächskapitel mit Herrn Grindelwald leuchtete rot auf. Mit gerunzelter Stirn zog Herr Goldenberg den Kugelschreiber - selbstverständlich himmelblau - aus der Spiralbindung des Buches und schlug die entsprechende Seite auf.

Guten Tag Herr Goldenberg,
die Zimmer sind wieder hergerichtet. Das Schloss erwartet euch schon. Kannst du schon grob abschätzen, wann ihr hier aufkreuzen werdet? Selbstredend möchte ich euch gerne persönlich in Empfang nehmen.
Ich wünsche euch bestes Gelingen.

Mit freundlichen Grüßen
M. Grindelwald

Wie üblich hatte der Schlossverwalter bei der Signatur seinen Nachnamen besonders groß und verschnörkelt geschrieben. Herr Goldenberg fand dies auch nach einigen Tagen Schriftverkehr noch einen fragwürdigen Umgang mit der Vergangenheit, aber er war Herrn Grindelwald mehr als dankbar dafür, dass er sie ohne zu zögern wieder in sein Schloss aufnehmen wollte. Er wollte gerade schon zu einer Antwort ansetzen, als er neben sich Schritte hörte - Stöckelschuhe. Möglichst beiläufig schlug er das Zwillingsbuch wieder zu. Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Moment setzte sich Frau Hof auf den freien Platz neben ihm.

»Guten Tag, Herr Goldenberg«, grüßte sie ihn vornehm und musterte die langsam in die Halle strömenden Schüler.
»Guten Tag, Frau Hof«, erwiderte er die Begrüßung. »Haben Sie die freie Zeit genutzt, um sich die Schule ein wenig anzusehen?«
»Ich denke, dafür habe ich in den nächsten Wochen noch genug Zeit«, erwiderte sie. »Aber wo ich ohnehin schon hier bin, kann ich auch diverse ministeriell angeordnete Untersuchungen durchführen. Gerade eben bin ich bei Ihrem Kollegen für Zaubertränke gewesen und habe geprüft, wie die Sicherheitsvorkehrungen in den Praxisphasen hier gehandhabt werden.«

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