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Zu meinen schlechten Angewohnheiten, die ich gerne wie meine blühenden Pflanzen pflegte, zählte das Beobachten von Menschen

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Zu meinen schlechten Angewohnheiten, die ich gerne wie meine blühenden Pflanzen pflegte, zählte das Beobachten von Menschen. Es war eine äußerst peinliche Angewohnheit, von der ich jedoch nicht ablassen konnte. Besonders Leute inspirierten mich. Ich fragte mich, was der Traumberuf des Geschäftsmannes links von mir war im Alter eines Kindes. Wie wohl die Familie des kleinen Jungen rechts von mir aussah. Welche die Lieblingsbücher der Leserin gegenüber von mir waren.

Diese Angewohnheit war genau deshalb eine schlechte Angewohnheit: Unerwartet sah die schwarzhaarige Leserin auf, erwischte mich beim Starren und staute ihre Nase wieder in die Seiten ihres Buchs. Ich schaute weg, guckte erneut hin und schon wieder wurde ich ertappt! Dieser Hin-Und-Her-Blickkontakt war wirklich zum Zähneknirschen lästig.

Darum legte ich meinen Fokus nun auf den Mann neben ihr. Dieser Kerl machte es mir leicht. Er war dermaßen gebunden an seinen Skizzenblock und Stift, dass ihn nichts rüttelte. Als das Baby zu seiner Linken hochfreudig mit einem Luftballon spielte und dadurch alle Blicke in der Bahn auf sich zog, schenkte der Mann dem Kind keinerlei Beachtung.

Er weckte mein Interesse wie kein anderer. Während ich mit meiner nahezu Hypersensibilität jedes kleinste Detail in meiner Umgebung analysierte, war er in seinem Kopf gefangen. Erst als die Durchsage Next Stop - Rosselli ankündigte, drückte er einen Kopfhörer hinter sein Ohr und schaute erschrocken hoch. Wie schnell die Zeit nur verging, gefesselt von Leidenschaft ...

Aus heiterem Himmel schoss eine Romanidee in meinen Kopf, als der Fremde die Straßenbahn verließ: Ein Künstler auf Jagd nach dem Sinn des Lebens, findet das Lebenselixier in seiner eigenen Ausgelassenheit. Wozu braucht man Andere, wenn man sich selbst hat?

Ich wurde völlig hippelig und fragte den Geschäftsmann nach einem Stift, den er mir nach kurzem Kramen reichte. Ich zog meinen Rock hoch über meine Knie, kritzelte die Idee auf meine Oberschenkel und hörte das Luftschnappen der empörten Leute. Der Geschäftsmann hob eine Augenbraue und schmunzelte als ich ihm dankend den Stift zurückgab.

Bei der nächsten Station sprang ich von meinem Sitz und lief den gesamten Weg nach Hause. Die Idee blühte immer und immer weiter in meinem Kopf auf. Zuhause angekommen war ich zwar völlig aus der Puste, hatte allerdings schon einen Namen, Francesco Pettres, eine Hintergrundgeschichte und einen Handlungswechsel! Ich setzte mich an meine Schreibmaschine und schrieb drauf los, jedoch wurden mir schnell die regelmäßigen Wortwiederholungen bewusst. Resigniert, doch keinesfalls entmutigt, seufzte ich und begab mich auf meine Terrasse. Die Nachmittagssonne zusätzlich der Aussicht auf Lorettas Garten beruhigten mich ein wenig. Ich zündete mir eine Zigarette, was zu dieser Zeit für junge Damen als ungehört galt.

Von links hörte ich Loretta rufen, »Stai bene, tesorino?« Mittlerweile wusste ich, was das bedeutete: ›Alles gut, Schätzchen?‹ Ich nickte, »Sto bene.«

Zwar war es durchaus enttäuschend, aber ich war lange nicht mehr so glücklich nach Hause gekommen.

Florenz, Sommer '85Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt