Kapitel 29

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Den ersten Tag in der Schule hatte Delphine überstanden. Ja, überstanden, denn toll war es nicht gewesen. Also das lag nicht an dem Schulstoff. Da hatte sie Rosa ja gut vorbereitet. Obwohl, was hieß hier vorbereitet. Den ganzen Kram kannte sie ja schon von Paris. Da war sie eindeutig weiter, bis auf Deutsch. Das bereitete ihr schon noch ein paar Probleme. Aber das dürfte auch bald Geschichte sein, denn sie war ja nicht dumm. Ja, lernen war ihr schon immer leicht gefallen. Trotzdem ödete es sie an. Man konnte mit seiner Zeit so viel besseres anfangen als hinter irgendwelchen Büchern und Heften zu versauern. Ihr Blick fiel zu der Barré. Ja, es gab eindeutig wichtigere Sachen als diesen dämlichen Schulkram. Delphine hielt sich an der Barré fest. Ob sie wohl einmal kurz versuchen sollte, sich auf die Spitzen zu stellen? Wenigstens mit dem gesunden Bein? Ehe sie der Versuchung nachgeben konnte, ertönte neben ihr eine Mauzen und Duchesse schmiegte sich an ihr Bein. „Hast du mich vermisst?" Das Schnurren wurde noch lauter. Scheinbar sollte das wohl ja heißen. Delphine hatte die kleine Katze auch vermisst. Immerhin hatten sie die letzten Tage komplett zusammen verbracht. Delphine hatte ja ihr Zimmer und ihr Bett kaum verlassen. „Das Essen ist fertig!" Ella war ohne zu klopfen in ihr Zimmer gestürmt gekommen. „Du hast doch wohl nicht etwa an der Stange geübt." Die Stimme triefte nur so von Fassungslosigkeit als Ellas Blick auf Delphines Hände fiel, die immer noch auf der Barré ruhten. „Das ist keine Stange, sondern eine Barré", knurrte Delphine. Wie dumm war Ella? Das wusste doch wohl jedes Kleinkind, wie das richtig hieß. „Das ist doch scheißegal, wie das Ding heißt. Jedenfalls ist es unverantwortlich, dass du daran schon wieder herumturnst." „Wer turnt?" Wo kam denn nun auch noch dieses Baby mit dem Bordellnamen her? War hier gerade Tag der offenen Tür in Delphines Zimmer? Das Blag hängte sich an die Barré und fing an zu schaukeln. Hatte die einen Vogel? Delphine schlug ihr mit der flachen Hand auf die Finger. Erschrocken ließ die Kleine los und landete auf ihrem Hintern. „Aua! Du bist voll gemein!", brüllte sie Delphine mit wütendem Blick an. „Hast du dir wehgetan?" Wo kam denn jetzt auch noch Daniel her? Ihr Bruder hatte sich zu Lulu auf den Boden gehockt und strich ihr über den Rücken. „Was ist denn hier los?" Delphines Mutter tauchte im Türrahmen auf. Dann fehlte ja nur noch Marvin, der Loser, und der ganze Trümmerhaufen war komplett. „Sie hat versucht an der Stange zu tanzen und dann hat sie Lulu..." „geschlagen!" Daniels wütender Blick streifte Delphine, ehe er zu Lulu wanderte und auf liebevoll wechselte. Das war genau wie früher. Da hatte er auch immer mit Leokardia gegen sie zusammengehalten. Ja, er konnte Delphine noch nie leiden. „Das ist keine Stange, sondern eine Barré. Wie oft denn noch? Stangen gibt es nur beim Poldance." Ja, Angriff war die beste Verteidigung. Das hatte Delphine schon früh gelernt. „Und das war nur ein harmloser Klaps, weil die Zwergin an der Barré herumgeturnt hat." „Ich bin keine Zwergin, du dumme Ziege." Lulu hatte sich mit in die Hüften gestützten Armen vor ihr aufgebaut. „Seit du hier bist, bist du nur doof und gemein!" „Lulu!" Delphins Mutter schüttelte ihren Kopf und verzog das Gesicht. „Wieso, Lulu hat doch recht. Delphie spielt sich wie eine Prinzessin auf. So wie früher", sprang Daniel seiner kleinen Schwester schon wieder zur Seite. „Da hat Daniel recht. Delphie lässt keinen von uns an sich wirklich ran. Und wir geben uns echt Mühe, nett zu ihr zu sein. Das ist genau wie früher." War ja klar, dass Schleimerin Ella auch Punkte sammeln wollte. „Daniel! Ella!" Die Stimme ihrer Mutter hatte einen drohenden Tonfall angenommen. „Sie haben doch recht. Es ist genau wie früher!", platzte es aus Delphine heraus. „Hier ist alles noch immer genauso verlogen wie früher. Wenn ihr ehrlich wärt, würdet ihr zugeben, dass ihr mich hier nicht wollt." Delphines Blick wanderte zu ihrer Mutter. „Du wolltest mich doch noch nie! Dir waren alle anderen wichtiger als ich. Sogar diese Bastarde!" Delphine ließ ihrer Wut freien Lauf. „Und jetzt treibt dich nur dein schlechtes Gewissen. Sonst wäre ich doch auch nicht hier oder weil du auf die Schnelle keine Reha gefunden hast, in die du mich abschieben kannst!" „Delphine! Das stimmt doch überhaupt nicht." Ihre Mutter schaute sie an, als hätte sie sie geschlagen. „Du kannst dir deine Schauspielerei sparen, ich nehme sie dir sowieso nicht ab. Ich sehe auch zu, dass ich von hier so schnell wie möglich wieder verschwinde, damit ich dir nicht mehr zur Last falle. Und jetzt verschwindet aus dem Zimmer und lasst mich in Ruhe!" „Du bist so eine gemeine Ziege!" Lulu schien hier die einzige zu sein, die nie ihre Meinung versteckte. „Lulu!" War klar, dass das nicht in das Konzept ihrer Mutter passte. „Wieso, sie sagt doch nur, was ihr alle denkt." „Delphie, das stimmt doch überhaupt nicht. Wir haben dich alle vermisst." Delphine lachte zynisch auf. „Ach ja, das habe ich in Paris jeden Tag gemerkt, wenn einer nach dem anderen bei mir angerufen hat. Und du, du bist ja auch zu jeder Vorführung und zu jedem Elterntag angetanzt. Einen Scheißdreck habe ich euch interessiert. Und das war schon immer so und wird auch immer so sein!" „Du bist voll gemein zu Mama!" Daniel baute sich vor Delphine auf. „Ja, entschuldige dich gefälligst bei Mama!" Ella stellte sich neben ihn, genau wie Lulu. „Nur zu deiner Info, sie ist gar nicht deine Mutter, aber du kannst sie gerne geschenkt haben. Sie taugt sowieso nichts." Ach wie niedlich, ihre Mutter machte auf Mitleid und schluchzte auf. „Was ist denn hier los? Marvin hat mich reingelassen." Na prima! Vicki, die hatte Delphine ja auch gerade noch gefehlt. Sie schaute von einem zum anderen und verzog kurz das Gesicht. „Könntet ihr uns dann bitte alleine lassen! Wir haben zu arbeiten." Wie auf Befehl verschwanden alle aus dem Zimmer. „Geschwister können manchmal echt anstrengend sein, was?" Vicki legte ihren Arm um Delphines Schulter. „Ich war die jüngste von dreien und das schwarze Schaf, weil ich nicht so funktioniert habe wie die anderen. Und die halten dann auch noch zusammen und man fühlt sich wie der letzte Außenseiter. Immer ist man der Buhmann. Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst." Das konnte Delphine sich zwar nicht vorstellen, aber trotzdem war es schön, dass sie mal nicht jemand gleich als die böse Ziege abstempelte. „Komm lass uns deine Übungen machen, damit du bald wieder fit bist und ihnen zeigen kannst, was du drauf hast." Ja, das hörte sich gut an. Wenn sie fit war, konnte sie dieses Irrenhaus hier wieder verlassen und einfach ihr Leben leben. Sie interessierte hier doch sowieso keinen wirklich. Dämliche Heuchler!

Schuss und Treffer - Tanz mit dem Ball    Teil 14Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt