Kapitel 1

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Die Inflation hatte an keinem Land der Welt ein gutes Haar gelassen, doch die Vereinigten Staaten waren von der Wirtschaftskrise besonders betroffen. Die hohen Mietpreise und die fehlenden Arbeitsplätze bedeuteten für die meisten Menschen den Verlust ihrer Existenz, doch für einige Seelen waren dies gute Gründe, endlich das Leben zu führen, von dem sie schon lange heimlich geträumt hatten. Antonia Brunelli war eine Außenseiterin, seit sie sich erinnern konnte und hatte die Schule frühzeitig abgebrochen. Sie war der Ansicht, dass Obdachlosigkeit nicht per se etwas Schlechtes war, schließlich waren die Menschen nicht immer sesshaft gewesen und es gab bis heute auf der ganzen Welt Nomaden. Wer bestimmte denn, dass Menschen ein Haus und eine feste Arbeitsstelle haben mussten? Gott? War nicht Jesus selbst Wanderprediger gewesen? Antonia war der Überzeugung, dass das moderne Leben die Menschen depressiv machte. Der endgültige Zusammenbruch der Wirtschaft vor wenigen Jahren hatte ihr wenig ausgemacht, er hatte ihr nur den Ansporn gegeben, aus der völlig überteuerten Besenkammer auszuziehen, die ihr Vermieter eine Wohnung nannte. Da sie mit jeder Art von geregelter Arbeit nichts anfangen konnte, hatte sie sich die Miete schon vorher kaum leisten können, doch selbst mit einer Festanstellung hätte sie sich nun keine Wohnung mehr leisten können. In ihrer ersten Nacht im Freien hatte sie einen alten Obdachlosen getroffen, einen sogenannten Hobo, der sie gefragt hatte, ob sie schon einmal von Trainhopping gehört hatte. Illegales Reisen auf Güterzügen hatte eine lange Tradition in den Vereinigten Staaten und war schon während der ersten großen Depression in den 1930er eine beliebte Fortbewegungsmethode gewesen. Antonia dachte gern zurück an ihre erste Reise mit einem Güterzug, während sie auf einem Haufen Schottersteine in einem Waggon saß und sich den Wind um die Nase blasen ließ. Dies war nun fast schon drei Jahre her, ein Hobo namens Dan The Deviant hatte ihr beigebracht, wie man auf Züge aufsprang. Sie waren die Nacht durch von Alabama nach Florida gefahren und hatten dabei so viel Bier getrunken, dass sie Antonia beim Verlassen des Wagons fast gestürzt wäre und nur Dans hagere Arme sie davon abhalten konnten, mit dem Kopf auf dem Metall der Eisenbahn aufzuschlagen und sich das Genick zu brechen. Antonia hatte Dan seitdem nie wieder gesehen, doch bevor die beiden sich verabschiedet hatten, hatte er ihr den Spitznamen Tiny Toni gegeben. Antonia war zu klein, um über die metallenen Wände des Güterwagons blicken zu können, doch sie konnte spüren, dass der Zug immer langsamer wurde. Der Name Tiny Toni kam nicht von irgendwoher, Antonia kam nicht über die eins fünfzig hinaus, weshalb sie es ohne Abhilfe nicht schaffte, über die hohen Wände der Güterwagons zu klettern. Aus diesem Grund hatte sie lange nicht allein reisen können, doch seit sie sich ein Seil mit Haken am Ende gebastelt hatte, war auch dies kein Problem mehr. Neben einer voll geladenen Pistole war dies der wichtigste Gegenstand in ihren Gepäck. Antonia zog sich am Seil nach oben und schwang sich anschließend auf die andere Seite der Metallwand, um die knarrende Leiter nach unten zu steigen und zu warten, bis der Zug in den Bahnhof einfuhr. Als die Eisenbahn langsam zu Stehen kam, konnte Antonia zwei Männer erkennen, die bei den Gleisen am Bahnhof standen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis einer der beiden in ihre Richtung blickte.

»Hey!« Er machte seinen Kollegen auf den blinden Passagier aufmerksam, worauf beide sich in ihre Richtung begaben. Dies war nicht das erste Mal, dass so etwas passierte, aber Antonia packte jedes Mal wieder die Panik. Der Zug war noch zu schnell, als dass sie sicher abspringen konnte, aber Antonia würde den Teufel tun, sich diesen Männern zu stellen und eine Anzeige zu riskieren. Ohne Rücksicht auf Verluste sprang sie von dem fahrenden Zug, ein stechender Schmerz durchzuckte ihren linken Knöchel, als sie auf der Erde ankam, doch dies hielt sie nicht davon ab, mit vollen Geschwindigkeit so weit zu laufen, wie ihre kurzen Beine sie tragen konnten. Sie sprang ins nächste Gebüsch am Rande der Bahngleise und kratzte sich die Arme auf, während sie sich durch das Geäst kämpfte, um auf den Bürgersteig auf der anderen Seite zu gelangen. Zum Glück stieß sie dieses Mal nicht gegen einen Maschendrahtzaun! Sie lief den Bürgersteig entlang und bog an der nächsten Ecke ab. Sie lief so lange, bis nicht nur ihre Lungen, sondern auch alle Muskeln in ihren Beinen protestierten. In den letzten drei Jahren hatte Antonia sich eine ausgezeichnete Kondition antrainiert. Ein altbekanntes Gefühl der Euphorie breitete sich in ihr aus, als ihr klar wurde, dass sie mal wieder den Sicherheitskräften entkommen war. Sie verbrachte den Nachmittag damit, nach einer Unterkunft in dieser Kleinstadt in Mississippi zu suchen. Heute hatte sie keine Lust, im Freien zu schlafen, denn sie hatte genug Geld gespart und hatte dringend eine Dusche nötig. Unterkünfte jeglicher Art waren teuer, zu teuer für jemanden ohne Einkommen, doch wenn sich Antonia gern einen Luxus gönnte, dann war es ein anständiges Bett. Sie kam schließlich in einem Frauenschlafsaal unter und gab sich den zwei anderen Gästen gegenüber als Reisende aus. Antonia war nicht von Natur aus ein Einzelgänger, die Einsamkeit ihres Lebensstils war für sie zeitweise eine große Belastung, doch leider konnte sie mit den meisten Leuten nichts anfangen. Sie wünschte sich nichts mehr, als wieder einen Reisepartner zu haben. Obwohl sie seit drei Jahren keinen Wohnsitz mehr hatte, sah man Antonia nicht an, dass sie obdachlos war. Als sie aus der Dusche des Hostels trat, wusch sie ihr sonnengeküsstes Gesicht und föhnte sich ihr langes, dunkles Haar mit einem kleinen, schrecklich lauten Föhn, den sie im Gemeinschaftsbad fand. Laut offiziellen medizinischen Standards kleinwüchsig zu sein, hatte seine Nachteile, doch Antonia war der Meinung, dass sie es durchaus ihrer geringen Körpergröße zu verdanken war, dass sie bei ihrem Lebensstil ihr Gewicht halten konnte und nicht abgemagert war. Im dreckigen Badezimmerspiegel des Hostels schminkte sie sich ihre Augen, die hellgrün in ihrem gebräuntem Gesicht leuchteten. Neben praktischer Kleidung, die sich zum Trainhopping eignete, hatte Antonia ein körperbetontes, grünes Kleid und ein Paar hoher Schuhe im Gepäck, in denen sie nicht ganz so klein wirkte. Antonia wusste, dass sie schön war, sie hatte es oft genug gehört. An diesem Abend ging sie allein aus, an ihrer Seite nur ihre geladene Pistole, die sie in einer gefälschten Designerhandtasche versteckt hatte. Es war Freitagabend, doch was hatte sie in dieser verschlafenen Kleinstadt zu suchen? In erster Regel Geld, und wenn sie keine Gelegenheit dazu fand, dann zumindest ein wenig Spaß. Auf gut Glück betrat sie eine Bar in der Nähe des Bahnhofs, wo sich ein Haufen beleibter Männer mittleren Alters an der Theke tummelte. Es gab einige Dinge auf der Welt, vor denen Antonia sich fürchtete, Rednecks gehörten nicht dazu. Ihre Augen richteten sich alle auf sie, als sie die Bar betrat und sich in ihrer Nähe auf einem Barhocker niederließ. Es dauerte ein paar Minuten länger als erwartet, bis sie angesprochen wurde.

Tiny Toni (2022)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt