Kapitel 19

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Antonia hatte sich in den Wald geflüchtet und dort einen Großteil des Tages verbracht, doch das reichte ihr nicht. Durch die Bäume zu streifen brachte ihr zwar kurzzeitige Ablenkung und Erleichterung, aber am Ende des Tages würde sie doch wieder nach Hause zurückkehren müssen. Das Zuhause, das sie nicht ihr eigen nennen konnte und in dem sich Abraham befand. Schon allein der Gedanke daran, ihn wieder zu sehen, löste in ihr eine Fluchtreaktion aus. Leider hatte sie ihren Rucksack heute morgen nur in Eile gepackt und wenn sie sich tatsächlich wieder auf den Weg in eine andere Stadt machen wollte, musste sie noch einmal zurückkehren und ihn richtig packen. Es war spät am Nachmittag und Antonia grauste es beim Gedanken daran, Pietras Haus zu betreten. Mit jedem Schritt verstärkte sich der Druck in ihrer Magengrube, der ihr das Gefühl gab, sich übergeben zu müssen. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie plötzlich so abgeneigt war, sie wusste nur, dass es unerträglich war. Als sie schließlich vor dem Haus ihrer Schwester stand, pochte ihr Herz so heftig, dass Antonia Angst hatte, es könnte ihr aus der Brust springen. Sie schloss die Haustür auf und atmete erleichtert auf, als sie einen leeren Flur vorfand. Sie huschte ins Wohnzimmer, wo all ihr Hab und Gut verstreut war und packte es in ihren großen Rucksack. Wenn alles verstaut war, würde sie ohne ein weiteres Wort verschwinden, ihrer Schwester würde sie eine SMS schicken, sobald sie Cherry Hill verlassen hatte. Sie konnte sich selbst nicht erklären, woher dieser plötzliche Fluchtinstinkt kam, was sollte sie sagen, wenn Pietra sie danach fragte? Oder schlimmer noch, wenn Abraham sie fragte? Antonia hoffte inständig, wieder verschwinden zu können, ohne bemerkt zu werden, doch leider ging ihre Rechnung nicht auf. Sie fuhr erschrocken hoch, als es an der Tür klopfte. Ihr Herz machte einen Satz, der ihr kurz den Atem nahm, als die Tür sich öffnete und Pietra ihren Kopf ins Wohnzimmer steckte.

»Toni?« Sie sah ihre kleine Schwester besorgt an. »Wo warst du den ganzen Tag?«

Sie kam ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Ich hab mir Sorgen gemacht, was ist los?«

»Ich muss gehen, Pietra.«, erklärte Antonia trocken.

»Wieso musst du gehen?« Pietra zog überrascht die Augenbrauen nach oben.

»Das kann ich dir nicht erklären.« Antonia fuhr manisch damit fort, ihren Rucksack zu packen.

»Ich verstehe das nicht, gestern war doch noch alles okay?«

»Ja, aber heute ist nicht mehr alles okay.« Pietra schüttelte ungläubig den Kopf und kniete sich neben Antonia.

»Was hast du?«, fragte sie besorgt. »Ist es wegen Abraham?«

Antonia nickte, ohne sie anzusehen.

»Was hat er dir getan?«

»Nichts.« Antonia stieß einen Seufzer aus. »Aber wir können nicht zusammen sein. Tut mir leid Pietra.«

»Was...«

»Ich kann es dir nicht erklären.« Für einen Moment schwieg Pietra und sah ihrer Schwester beim Einpacken zu.

»Gehst du jetzt einfach?«

»Ich kann nicht hier bleiben.« Pietra schüttelte abermals den Kopf.

»Bitte schmeiß Abraham nicht raus.«, bat Antonia sie. »Es ist nicht seine Schuld.«

Pietra richtete sich langsam auf und verließ wortlos das Wohnzimmer. Antonia wusste, dass sie ihre Schwester enttäuschte, doch im Moment konnte sie nichts anderes tun. Pietra kam nicht wieder, bis Antonia fertig gepackt hatte. Sie überprüfte noch einmal, ob sie wirklich an alles wichtige gedacht hatte. Sie hatte ihre Waffe, Geld, Handy und Kleidung. Essen konnte sie sich kaufen, das war nicht so wichtig. Sie war es nicht mehr gewöhnt, einen schweren Rucksack zu tragen und stöhnte, als sie sich ihr halbes Körpergewicht auf die Schultern lud. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den Flur betrat. Sie wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden, doch es wäre wahrlich unhöflich, sich nicht von Pietra zu verabschieden. Antonia konnte ihre Stimme aus der Küche hören, aus der leider auch die von Abraham tönte. Sie verweilte mehrere Minuten ihm Flur und rang mit sich, bis sie sich schließlich dazu entschloss, an die Tür zu klopfen. Pietra riss im nächsten Moment die Küchentür auf, sodass Antonia Abraham und Jared erblicken konnte, die am Küchentisch saßen.

Tiny Toni (2022)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt