Kapitel 20

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Antonia hatte es nicht übers Herz gebracht, sich weit von Cherry Hill zu entfernen, weshalb sie bereits ihre dritte Nacht in Philadelphia verbrachte. Sie schlief schlecht in dieser Zeit und vergoss häufig allein in ihrem Hotelzimmer Tränen. Sie trauerte um Abraham, obwohl sie sich überhaupt nicht getrennt hatten. Sie wollte mit ihm zusammen sein, doch sie hatte das Gefühl, dass dies nicht möglich war. Sie weinte, weil sie nicht dazu imstande war, ihn zu lieben und eine normale Beziehung zu führen. Es war nicht ihre erste Beziehung, aber noch nie zuvor hatte sie eine solche Reaktion gehabt. Es konnte nichts Gutes bedeuten, wenn sie sich bereits so früh von ihrem Partner abgestoßen fühlte. Es war noch gar nicht lange her, nicht einmal ein Jahr, seit Antonia einen Reisebegleiter namens Shy gehabt hatte. Die beiden waren gemeinsam auf Güterzüge gesprungen und hatten die Westküste unsicher gemacht. In einer Nacht, in der Antonia nicht schlafen konnte und sich in ihrem Hotelbett hin und her wälzte, schweiften ihre Gedanken ab und sie erinnerte sich an Shy. Er hatte nie viel gesprochen, an manchen Tagen überhaupt nicht, obwohl er eine wunderschöne Stimme hatte. Er war einmal ein begnadeter Sänger gewesen, doch da er rauchte wie ein Schornstein, konnte er irgendwann keine hohen Töne mehr treffen, dies hatte ihn jedoch nicht davon abgehalten, Antonia anrüchige Lieder ins Ohr zu singen, wenn sie sich zu zweit ein Hotelzimmer gemietet hatten. Dies war die einzige romantische Geste, die er je ihr gegenüber gezeigt hatte. Shy war der schönste Mann, den Antonia je getroffen hatte. Er war durchaus ein Exot, aber dennoch weiß genug, um der durchschnittlichen amerikanischen Frau den Kopf zu verdrehen. Seine Haut hatte die Farbe von Milchkaffee und die Beschaffenheit von Porzellan, seine Augen hatten die Farbe von Kaffee Americano und sein Blick bohrte sich jedes Mal tief in Antonias Seele, wenn er ihr in die Augen sah. Sein dunkles Haar umrahmte sein scharfkantiges Gesicht und glänzte wie flüssiges Zartbitter, auch wenn er sich lange nicht gewaschen hatte. Es versetzte Antonia einen Stich ins Herz, Shy mit Abraham zu vergleichen. Sie wusste, sie sollte nicht so denken, aber Shy war schöner als Abraham, viel schöner. Shy war auch nicht prüde gewesen, nie hätte er auch nur den Gedanken gehegt, aufgrund von irgendwelchen Moralvorstellungen auf Sex mit Antonia zu verzichten. Die beiden hatten wahrscheinlich mehr Zeit damit verbracht, miteinander zu schlafen, als Gespräche zu führen. Shy hatte Antonia nie gesagt, dass er sie liebte. Er hatte auch nie gesagt, sie würde ihm etwas bedeuten, er hatte ihr außerhalb des Schlafzimmers nie Zuneigung gezeigt. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er ihr je ein Kompliment gemacht hatte, das sich nicht auf ihren Körper bezog. Shy war ein Abenteurer und Meister der Waffen, er hatte Antonia dabei geholfen, ihre Schießkunst zu perfektionieren. Er hatte in seinem jungen Leben bereits jeden Bundesstaat besucht und sollte eigentlich viel zu erzählen haben, doch immer wenn er redete, war er unglaublich langweilig. Er erzählte kaum von sich selbst und brach Gespräche jedes Mal ab oder wechselte das Thema, wenn sie kurz davor waren, in die Tiefe zu gehen. Shy hielt Philosophie für Zeitverschwendung und konnte nie beim Thema bleiben, weshalb es unmöglich war, sich länger als eine halbe Stunde am Stück mit ihm zu unterhalten. Das hatte Antonia an ihm gestört, doch sie hatte sich nie angewidert von ihm gefühlt, auch hatte sie keine Angst vor ihm gehabt. Abraham und Shy hatten gemeinsam, dass sie vom Aussehen her etwas dunklere Typen und von der Persönlichkeit her introvertierte Typen waren. Antonia konnte sich nicht vorstellen, dass Shy sich so selbstlos um seinen Bruder kümmern würde, wie Abraham es tat, auch hätte er wohl nie eine ernsthafte Beziehung mit Antonia geführt. Hätte sie sich Shy gegenüber so benommen wie bei Abraham, hätte er sie auf der Stelle sitzen lassen und ihr keine zweite Chance gegeben, während er ihr noch einmal seine Liebe gestand. Einmal hatte es so etwas wie einen Streit zwischen Antonia und Shy gegeben, da sie sich bei ihm beschwert hatte, dass er ihr nie zuhörte. Sie erinnerte sich noch genau an Shys Reaktion, er hatte geseufzte und seine Zigarette zu Ende geraucht, anschließend hatte er Antonias Hand genommen, als würde er Händchen halten wollen, nur um seine Zigarette auf ihrem Handrücken auszudrücken und ihr zu erklären, dass er sie nicht liebte und sie ihm deshalb nichts vorzuschreiben hatte. Am nächsten Tag war er über alle Berge gewesen und Antonia hatte ihn nie wieder gesehen. Sie hatte ihm eine Woche hinterher getrauert, bis sie eingesehen hatte, dass sie mit ihm an ihrer Seite nie glücklich gewesen wäre und es besser war, wenn er weg war. Obwohl ihr dies immer noch klar war, vermisste sie Shy plötzlich. Wenn Antonia es objektiv sah, war Abraham in allen Aspekten die bessere Wahl, trotzdem hatte sie das Gefühl, nicht mehr in ihn verliebt zu sein, sondern in Shy. Sie erinnerte sich an den Sex mit Shy zurück und konnte sich plötzlich nicht mehr an die zwei Nächte mit Abraham erinnern. Als ihr bewusst wurde, dass sie mehr für diesen charakterlosen Kettenraucher empfand als für den aufrichtigen Abraham, schreckte sie erschrocken hoch. Was stimmte eigentlich nicht mit ihr? War es nur, weil Shy attraktiver war? Mit diesem Gedanken war ihr Schlaf endgültig dahin, egal wie lange Antonia sich herumwälzte, sie bekam kein Auge mehr zu. Wieso konnte sie sich nicht einfach wie eine normale Person verlieben? Wieso musste sie von solchen Gedanken gequält werden? Sie wollte zurück zu Abraham kehren und ein glückliches Leben mit ihm führen, oder wenn nicht das, dann zumindest ein paar schöne Monate, aber nicht einmal das schien ihr vergönnt zu sein. Vielleicht war sie verdammt dazu, für immer allein zu bleiben. Dieser Gedanke machte sie wütend, je länger sie darüber nachdachte. Normalerweise neigte Antonia nicht zu Selbstmitleid, aber sie bekam das Gefühl, das Leben würde ihr übel mitspielen. Um sechs Uhr früh gab sie es endgültig auf zu schlafen. In ihr hatte sich so viel Spannung aufgebaut, dass sie um sich schlagen und herumschreien wollte, wie unfair alles war. Da sie in einem Hotel mit dünnen Wänden untergekommen war und die anderen Gäste nicht mit einem morgendlichen Wutanfall aufwecken wollte, beschloss sie spontan, sich Turnschuhe anzuziehen und durch die Straßen von Philadelphia zu laufen, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Antonia gehörte nicht zu den sportlichen Menschen auf dieser Welt und besaß nicht einmal Sportkleidung, also hetzte sie in einer unförmigen Jogginghose den Bürgersteig entlang, als würde sie von einem Schwarm Bienen verfolgt. Sie hielt es keine fünf Minuten aus, bevor sie Schnappatmung bekam und vor ihren Augen Sterne tanzten, aber in diesen fünf Minuten gab ihr Kopf Ruhe, weshalb sie nach einer kurzen Verschnaufpause weiterlief. Sie lief, bis ihre Muskeln verkrampften, doch kein körperlicher Schmerz war schlimmer als die Gedanken, die Antonia quälten. Da der Schmerz das einzige war, was diese Gedanken ausblendete, lief Antonia weiter. Sie lief, bis ihr Hals sich zuschnürte und ihre Lunge sich anfühlte, als würde sie kollabieren, erst als vor ihren Augen die ganze Umgebung zu flimmern begann, kam sie an einer Straßenlaterne zum Stehen. Dies machte das Flimmern nur schlimmer, die Welt um sie herum verschwand und machte Platz für lustige Formen an allen Regenbogenfarben, dazu ertönte plötzlich ein Lauter Piepton, als hätte sie einen Tinnitus. Der Anblick der bunten Muster würde Antonia sicher faszinieren, würde sie Luft bekommen. Sie klammerte sich ängstlich an der Laterne fest und versuchte, ein paar Atemzüge zu nehmen. Vielleicht hätte sie sich nicht zu sehr überanstrengen sollen, denn sie stellte erschrocken fest, dass ihr in diesem Moment das Bewusstsein entglitt. Sie schnappte nach Luft und spürte, wie jemand sie am Arm fasste. Antonia befand sich schon so sehr im Delirium, dass sie im ersten Moment tatsächlich dachte, Abraham wäre gekommen, um sie zu retten. Der Gedanke gefiel ihr, aber als sich ihr Sichtfeld langsam wieder klärte, erkannte sie, dass nicht Abraham ihr zu Hilfe gekommen war, sondern eine kleine alte Dame mit runder Brille. Sie hielt Antonia am Arm fest und sprach auf sie ein, während ihr eine andere, nicht ganz so alte Dame eine Flasche Wasser reichte. Antonia zögerte nicht, sie entgegen zu nehmen und trank die Flasche gierig und in großen Zügen leer. Das Pfeifen in ihren Ohren wurde langsam leiser und sie konnte ihre Umgebung wieder erkennen.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte die Dame, die Antonia immer noch am Arm festhielt. Antonia nickte und versuchte, ihren Atmen unter Kontrolle zu bekommen.

»Ich bin zu schnell gelaufen.«, keuchte sie.

»Brauchen Sie noch etwas zu trinken?«, fragte die andere Frau. »Vielleicht einen Saft, damit Sie etwas Zucker bekommen.«

Antonia schüttelte den Kopf.

»Ist schon in Ordnung.«, behauptete sie.

»Setzen Sie sich doch hin.« Die Damen führten Antonia zur nächstgelegenen Bank, wofür sie sich mehrmals bedankte. Sie war gerührt darüber, dass die beiden bei ihr blieben, obwohl Antonia beteuerte, dass es ihr gut ging. Die Gutherzigkeit dieser fremden Damen ließ Antonia für einen Moment all ihre Misere vergessen. Sie ließen sie nicht allein, bis sich ihre Atmung wieder komplett reguliert hatte und ihr Gesicht nicht mehr ganz so rot war wie eine reife Tomate. Erst als Antonia ihnen zum zehnten Mal erklärte, dass mit ihr alles in Ordnung war, ließen sie sie gehen. Wie weit war Antonia eigentlich gelaufen? Als sie aufstand, um sich auf den Weg zurück zu ihrem Hotel zu machen, stellte sie erschrocken fest, dass sie einen weiten Weg vor sich hatte. Die Verzweiflung, die sie in dieser Nacht gespürt hatte, war für einen kurzen Moment gewichen und ihr waren ein paar Minuten innerer Frieden gegönnt. Je näher sie dem Hotel kam, desto trauriger wurde sie und sie wusste, dass sie eine Runde heulen und eine Flasche Wasser trinken würde, sobald sie zurück in ihrem Zimmer war. Das Laufen hatte sie komplett ausgelaugt, doch es hatte ihr auch ein paar klare Momente verschafft, in denen sie einen festen Entschluss gefasst hatte. Sie wollte zu Abraham zurückkehren.

Tiny Toni (2022)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt