Kapitel 18

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Antonia wusste nicht, was sie erwartet hatte, doch viel hatte sich in ihrem Leben nicht geändert. Sie und Abraham führten ihre Arbeit weiter wie bisher. Seit sie offiziell verliebt waren, hielt sich Abraham mit Körperkontakt nicht mehr zurück, bei jeder seiner Berührungen spürte Antonia ihren ganzen Körper prickeln, aber gleichzeitig spürte sie eine konstante Anspannung, seit sie mit Abraham zusammen war. Antonia war nicht unglücklich, sie fühlte sich, als würde sie täglich innerlich sterben und wieder neu geboren werden. Pietra schien sich mehr über die Beziehung zu freuen als Antonia selbst, sie schwirrte den ganzen Tag summend umher, als sei sie es, die verliebt war. Manche Nächte schlief Abraham bei Antonia auf dem Sofa, doch die beiden blieben erstaunlich enthaltsam, Antonia fragte sich, ob sie ihre Liebe mehr genießen könnte, hätte sie nicht schon vor Abrahams Liebeserklärung mit ihm geschlafen. In einer der Nächte, in denen sie gemeinsam auf dem Sofa schliefen, erzählte sie ihm von dieser Theorie. Abraham stimmte ihr zu, er war zwar noch nicht zum Christen geworden, doch aber lehnte zu frühen Sex nach wie vor ab.

»Auf was soll man sich dann noch freuen?«, fragte er in die Dunkelheit hinein.

»Meinst du, wir hätten warten sollen?«, fragte Antonia.

»Vielleicht, aber ich bin immer noch ein Mann, kein Heiliger.«

»Du bereust nichts, oder wie soll ich das verstehen?«

»Im Leben darfst du nichts bereuen, wenn du einen Fehler machst, sollst du nur daraus lernen.«

»Welche Fehler hast du denn schon gemacht?« Darauf gab Abraham keine Antwort.

»Wie fühlst du dich?«, fragte er stattdessen. Antonia musste nachdenken. Am liebsten würde sie Abraham sagen, dass es ihr wunderbar ging, schließlich war sie doch frisch verliebt, oder?

»Ich bin nervös.«, antwortete sie schließlich wahrheitsgemäß.

»Wieso denn nervös?«

»Im einen Moment bin ich dir glücklichste Frau der Welt, im nächsten gerate ich in Panik.«

»Das ist normal, Antonia.«, behauptete Abraham und schlang die Arme um sie. »Wir wissen nicht, wie die Zukunft aussieht. Heute sind wir noch glücklich verliebt, morgen könnten uns unsere Lebensumstände auseinanderreißen.«

»Du machst dir auch Sorgen?«

»Eigentlich nicht. Ich meine, wir haben uns nicht zum besten Zeitpunkt verliebt, aber das heißt nicht, dass wir nicht glücklich sein können.«

»Vielleicht habe ich einfach Angst, dich zu verlieren.«

»Das ist normal, Antonia.«

»Meinst du?«

»Wir sind Nomaden, nichts in unserem Leben ist beständig. Aber wenn wir zusammen sein sollen, dann werden wir einen Weg finden.«

»Und wer bestimmt, ob wir zusammen sein sollen? Gott?«

»Vielleicht.« Antonia konnte spüren, wie Abraham lachte.

»Bitte mach dir keine Sorgen, Antonia. Ich bin keine zwanzig mehr, ich laufe nicht einfach weg.«

»Das sagen viele, aber nur wenige halten sich daran.«

»Aber ich verspreche es dir, Antonia.« Dies waren die letzten Worte, die Antonia hörte, bevor sie in Abrahams Armen einschlief.

Am nächsten Tag wachte Antonia entspannt auf, nicht nur weil sie länger geschlafen hatte als üblich, sondern weil sie tief im Inneren das Gefühl hatte, Abraham vertrauen zu können. Fehlendes Vertrauen in ihn war nie das Problem gewesen, Antonia traute viel mehr sich selbst nicht. Als sie an diesem Tag aus dem Haus trat, um für Pietra einkaufen zu gehen, fielen kleine Schneeflocken vom Himmel. War es denn schon Winter? Antonia fiel mit Erstaunen auf, dass es bereits Mitte November war, sie war schon mehr als einen Monat bei ihrer Schwester. Die Zeit verging schneller, wenn man nicht auf Reisen war. Vielleicht war Antonia deshalb ungern sesshaft, weil sie der ewigen Jugend nachjagen wollte. Leider konnte sie so lange weglaufen wie sie wollte, irgendwann würde auch sie alt werden. Würde sie im Seniorenalter immer noch auf Züge springen? Der Gedanke daran ließ sie schmunzeln, doch während sie auf dem Weg in den nächsten Supermarkt war, fragte sie sich tatsächlich, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Pietra war so schlau gewesen, in ihrer turbulenten Ehe von zwei Jahren keine Kinder in die Welt zu setzen, die Wahrscheinlichkeit war auch gering, dass sie noch einmal welche bekommen würde. Antonia wusste nicht, ob ihr Vater noch einmal Kinder bekommen hatte, also musste sie davon ausgehen, dass sie die letzte war, die dafür sorgen konnte, dass der Genpool der Familie Brunelli nicht ausstarb. Aber wäre die Welt ohne weitere Brunellis nicht besser dran? Antonia war Mitte zwanzig, wenn sie Kinder bekommen wollte, war jetzt die Zeit dafür. Jetzt hatte sie ja auch einen potentiellen Vater für ihre Kinder gefunden, aber wollte sie wirklich ein Baby mit Abraham haben? Würden sie sich gemeinsam in ein Landhaus zurückziehen und eine kleine Familie gründen? Antonia schüttelte den Gedanken ab. Sie waren kaum eine Woche zusammen, es war viel zu früh, um sich darüber Gedanken zu machen. Da sie allerdings eine lebhafte Gedankenwelt hatte, ließen sich ihre Gedanken nicht abschalten und während sie einkaufen ging, stellte sie sich vor, wie ihre gemeinsamen Kinder mit Abraham aussehen würden. Sie alle hätten dunkles Haar, das war klar. Dazu grüne Augen und große Nasen, mache von ihnen waren klein, andere groß, der Gedanke amüsierte Antonia so sehr, dass sie gar nicht mehr aufhören wollte, daran zu denken. Sie dachte daran während sie ihren Einkaufswagen befüllte, an der Kasse bezahlte und auf dem Weg nach Hause war. Da es nachmittags war, war Abraham bereits zu Hause, als er Antonias Ankunft mitbekam, trat er auf den Flur, um sie in die Arme zu schließen und sie zu begrüßen. Plötzlich schämte sie sich ein wenig dafür, sich so viele Gedanken über ihre potentiellen gemeinsamen Kinder gemacht zu haben. Sie konnte Abraham nichts davon erzählen, am Ende würde er noch denken, sie wollte sofort ein Kind von ihm. Stattdessen stellte sie ihm die völlig banale Frage, wie die Arbeit gewesen sei. Abraham mochte die Arbeit auf der Baustelle nicht, er machte den Job nur, damit er Pietra nicht auf der Tasche lag.

»Ab Dezember bin ich offiziell raus.«, erklärte er.

»Und dann?«, fragte Antonia. Abraham zuckte die Schultern.

»Glaubst du, ich plane mein Leben?« Er stieß ein Lachen aus, dann wandte er sich wieder von Antonia ab. Von nun an mussten sie ihr Leben gemeinsam planen, wenn sie eine richtige Beziehung führen wollten. Antonia ging in die Küche, um den Kühlschrank einzuräumen. Es gab nur eine Sache aus ihren Einkäufen, die sie für sich beanspruchte und mit ins Wohnzimmer nahm, das war eine Flasche Rotwein. Sie selbst trank nur hin und wieder Wein, doch Abraham hatte sie gebeten, jeden Alkohol aus der Reichweite von Jared zu halten. Sie öffnete die Flasche, als Abraham sich abends zu ihr ins Wohnzimmer gesellte. Pietra hortete nicht nur unnützen Kram, sondern auch Spiele, mit denen sich Antonia und Abraham abends gerne die Zeit vertrieben. Am heutigen Abends spielten sie altmodische Kartenspiele und leerten nebenbei die ganze Flasche Rotwein. Abraham war jemand der behauptete, keinen Alkohol zu mögen, doch Antonia wusste inzwischen, dass er sich nicht immer an seine eigenen Moralvorstellungen hielt. Pietra hatte erst vor kurzem geplaudert und Antonia erzählt, dass er ihr eine Packung ihrer Pilze abgekauft hatte. Antonia machte ihm keine Vorwürfe, das Leben war hart und eine Drogenfabrik im Haus, in dem man lebte, war einfach zu verlockend. Auch mit der sexuellen Enthaltsamkeit meinte er es nicht so ernst, wie er gerne behauptete. Es war erst wenige Nächte zuvor gewesen, da hatte er ihr von den Vorzügen des Wartens erzählt, doch nach einer halben Flasche Rotwein hatte er all das vergessen. Antonia war dies ganz recht, denn so bescherte er ihr die schönste Nacht ihres Lebens. Wenn sie mit Abraham schlief, hatte sie keine Zweifel daran, dass sie ihn liebte, sie liebte ihn so sehr, wie sie noch nie jemanden zuvor geliebt hatte. Obwohl er morgen früh zur Arbeit aufbrechen musste, blieben sie bis in die Morgenstunden wach, bis Antonia keine Wünsche mehr offen hatte und der Schlaf sie übermannte. Sie schlief tief und fest, so fest, wie sie wahrscheinlich seit ihrer Kindheit nicht mehr geschlafen hatte. Sie schlief bis spät am Vormittag, als sie die Augen öffnete, lag Abraham nicht mehr neben ihr, als sie einen Blick auf die Uhr warf stellte sie fest, dass es bereits nach elf war. Als sie aufstand, um sich anzuziehen, wurde ihr schwindelig. In ihrer Magengrube breitete sich so ein Druck aus, dass sie das Gefühl bekam, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Sie schaffte es nur, sich Unterwäsche anzuziehen und stürmte halb nackt ins Badezimmer. Sie hing schwer atmend über der Kloschüssel, doch aus ihrem Magen kam nichts. Anfangs hatte sie vermutet, ihr wäre wegen des Alkohols übel, doch als die Übelkeit sich langsam in eine schiere Panik verwandelte, wurde ihr klar, dass ihr Zustand keine körperlichen Ursachen hatte. Hatte sie einen Fehler gemacht? Von der Liebe, die sie in der Nacht Abraham gegenüber verspürt hatte, war nichts mehr übrig. Der Gedanke an ihn verursachte ihr nur mehr Übelkeit. Antonia wusste nicht, woher dieses Gefühl plötzlich kam, doch sie wusste, dass es einen Grund haben musste. Sie hätte nicht mit ihm schlafen dürfen, diese ganze Beziehung war ein Fehler. Sie konnte nicht warten, bis er zurück war, um ihm das zu erzählen. Sie wollte nicht auf ihn warten, sie wollte ihn nie wieder sehen. Sie musste verschwinden, sofort.

Tiny Toni (2022)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt