Antonia war nicht von Natur aus aggressiv. Sie war niemand, der anderen mit zerbrochenen Gläsern attackierte, die Erinnerung an den gestrigen Vorfall kam ihr vor wie etwas, das sie nur beobachtet und nicht selbst mitgemacht hatte. Sie war sofort zurück in ihr Hostel gelaufen und hatte sich in ihrem Bett versteckt, doch an Schlaf war gar nicht zu denken gewesen. Die Furcht saß ihr tief in den Knochen, während die Gedanken an gestern sie quälten. Sie versuchte, die Erinnerung zu verdrängen, aber immer wieder tauchte Erics lüsterner Blick vor ihrem inneren Auge auf, gefolgt von seinem blutverschmierten, mit Schnittwunden versehrten Gesicht. Er hatte ihre Kontaktdaten, er konnte sie anzeigen. Den Lohn für diesen Monat konnte Antonia vergessen, zum Glück hatte sie im letzten Augenblick noch einen Blick in seine Schubladen geworfen und hatte ein paar Geldscheine mitgehen lassen. Auch nachdem sie Nala die Hälfte überlassen hatte, war es für Antonia eine beachtliche Summe, wenn auch nicht im Ansatz so viel, wie sie sich durch ihre Arbeit verdient hatte. Es ärgerte sie, dass sie ihre Arbeitsstelle auf diese Weise verlassen musste und weiß Gott wie viele Arbeitsstunden verschwendet hatte. Der einzige Weg, das Geld zurückzuerlangen wäre es, offiziell zu kündigen, doch Antonia würde den Teufel tun, Eric noch einmal unter die Augen zu treten. Bei seinem Anblick würde sie bestenfalls einen Brechreiz bekommen. Sie war die ganze Nacht wachgelegen und hatte erfolglos versucht, sich zu beruhigen, nun torkelte sie mit brummendem Kopf in Richtung Bahnhof. Von ihrem Hostel, aus dem sie gerade ausgecheckt hatte, musste sie eine gute halbe Stunde bis zum Bahnhof laufen, doch Antonia glaubte, dass der Fußweg ihr ganz gut tat. Sie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Eigentlich müsste sie frühstücken, doch ihr war übel und sie fühlte sich nicht imstande dazu, auch nur einen Bissen zu essen. Auf ihrem Weg wurde sie plötzlich durch ein Hupen aufgeschreckt. Ihr Puls ging augenblicklich in die Höhe und sie fuhr erschrocken herum. Wenige Meter links von ihr, mitten auf der Straße, hatte ein schwarzes, verkratztes Auto auf Schritttempo reduziert und fuhr neben Antonia her. Aus den Autos hinter ihm war wütendes Hupen zu hören, was den Fahrer aber nicht im geringsten zu stören schien. Im ersten Moment befürchtete Antonia, Eric hätte jemanden auf sie angesetzt. Der Fahrer des Autos ließ das Beifahrerfenster herunter. Sein Beifahrer hatte den Kopf auf das Armaturenbrett gelegt, daneben konnte Antonia ein bekanntes Gesicht erkennen. Er trug das gleiche, kurze schwarze Haar, doch dieses Mal hatte er sich rasiert.
»Abraham?« Antonia kam erstaunt näher.
»Wusste ich's doch!« Abraham stieß ein lachen aus. »Ich hatte schon Angst, ich hätte dich verwechselt. Soll ich dich mitnehmen, Antonia?«
Auch wenn sie Abraham nur flüchtig kannte und nicht wusste, ob sie ihm trauen durfte, war Antonia gerührt darüber, ein bekanntes, freundliches Gesicht zu sehen.
»Bitte!«
»Steig ein!« Antonia öffnete rasch die Hintertür, warf ihren Rucksack auf die Rückbank und ließ sich auf den Sitz fallen.
»Kannst du mich zum Bahnhof bringen?«, fragte sie und schnallte sich an.
»Weißt du schon, wohin du als nächstes fährst?«, fragte Abraham und beschleunigte wieder. Antonia schüttelte den Kopf.
»Ich will in Richtung Ostküste.«
»Ich gehe davon aus, dass du auf den nächsten Güterzug wartest und kein Zugticket hast.«, bemerkte Abraham. »Wir können gemeinsam in eine andere Stadt fahren. Wenn du das möchtest, natürlich.«
»Ich...« Antonia wusste selbst nicht, was sie wollte. Sie konnte nur den Kopf schütteln.
»Der Bahnhof ist ganz in der Nähe, du musst dich jetzt entscheiden.« Antonia rieb sich erschöpft die Augen.
»Bist du schon lange unterwegs?« Sie konnte sehen, dass Abraham sie durch den Rückspiegel ansah.
»Nein, ich...« Sie konnte ihm unmöglich sagen, was gestern passiert war.
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Tiny Toni (2022)
De TodoAntonia Brunelli ist eine Außenseiterin, seit sie sich erinnern kann. Sie genießt das Hobo Leben im wirtschaftlich ruinierten Amerika und fährt auf Güterzügen durch das Land. Das einzige was ihr zu schaffen macht, ist die ständige Einsamkeit auf den...