Kapitel 2

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Da die Kleinstadt bis auf betrunkene Rednecks nicht viel zu bieten hatte, war Antonia schon bald wieder unterwegs. Schon am nächsten Nachmittag saß sie in einem Güterzug, von dem sie nicht wusste, in welche Richtung er fuhr. Sie hatte schon die meisten Staaten der USA besucht, die wenigsten dieser Besuche waren geplant gewesen, Antonia war am glücklichsten, wenn sie sich an keine Pläne halten musste. Sie saß seit Stunden in einem der Güterwagons und hoffte, noch vor Sonnenaufgang abspringen zu können. Inzwischen hatte sie sich so sehr an den Lärm, das Ruckeln und den Wind gewöhnt, dass sie es schaffte, während der Fahrt zu dösen, schlafen war unter diesen Umständen jedoch unmöglich. Früher hatte Antonia sich dafür geschämt, obdachlos zu sein, doch aufgrund der wirtschaftlichen Situation lebte inzwischen ein kleiner, aber dennoch beträchtlicher Prozentsatz der Bevölkerung ohne festen Wohnsitz. Antonia gehörte zu diesem Prozentsatz und konnte sich inzwischen nicht mehr vorstellen, zu einem normalen Leben zurückzukehren. Man hatte versucht, sie mithilfe von Ritalin und Antidepressiva zu einem produktiven Teil der Gesellschaft zu machen und sie hatte sich viel zu lange darauf eingelassen. Mit dreiundzwanzig Jahren hatte sie endlich den Mut gefasst, auszubrechen. Es wurde bereits dunkel, als der Zug anhielt, in dem sie saß. Dank moderner Technologie, die auch sie in der Tasche hatte, fand sie heraus, dass sie sich in Tennessee befand. Sie sprang rasch vom Zug und verließ den Bahnhof, doch heute entschloss sie sich dazu, nicht in die Stadt zu gehen. Es war schon spät, alle Läden mussten geschlossen haben und Antonia musste bis morgen warten, um sich die Munition nachzukaufen, die sie gestern verschossen hatte. Heute Abend wehte ein warmer Wind, der Himmel war klar und wolkenlos, heute Nacht würde sie einen wunderbaren Blick auf die Sterne haben. Eine Händematte zwischen zwei Bäumen im nächstgelegenen Wäldchen aufzuhängen, war sicher nicht die bequemste Art zu schlafen, aber würde es Antonia um Bequemlichkeit gehen, würde sie Sozialhilfe beantragen, die trotz Staatsschulden noch voll ausgezahlt wurde. Es war egal, wo Antonia sich zur Ruhe legte, sie schlief weniger, als es gesund für sie war. Sie hatte aktive Gedanken und ihr Gehirn gab selten Ruhe. Da sie meistens niemanden hatte, mit dem sie reden kannte, verbrachte sie Stunden damit, nachts wach zu liegen und mit sich selbst in ihrem eigenen Kopf zu diskutieren. Sie philosophierte über das Leben und malte sich aus, was sie als nächstes tun würde. Sie hinterfragte sowohl gesellschaftliche Konventionen als auch ihre eignen Grundsätze, häufig regten ihre eigenen Theorien sie so sehr an, dass sie davon erst recht nicht schlafen konnte. Zu Anfang ihrer Zeit als Hobo hatte sie gestohlen, um über die Runden zu kommen, sie hatte eine ganze Nacht mit sich selbst diskutiert um zu dem Schluss zu kommen, dass sie kognitiv dissonant war und es in keinem Fall gerechtfertigt war, anderen ihr Eigentum wegzunehmen. Sie hielt Steuern für Raub, doch selbst Leute, die in von Steuern finanzierten Berufsständen arbeiten, durfte sie nicht bestehlen, denn sie selbst zahlte keine Steuern. Seit dieser Nacht hatte sie nie wieder gestohlen. Heute brach keine Diskussion in ihren Gedanken aus und Antonia schlief erstaunlich schnell in ihrer Hängematte ein. Sie wachte früh am Morgen auf und baute ihren Schlafplatz ab, nach einem kleinen Spaziergang durch den Wald machte sie sich auf den Weg in die Stadt und suchte nach dem nächsten Waffenladen, um sich Munition zu besorgen. Während sie in einem kleinen Café frühstückte, beobachtete sie die Menschen, die dort ein- und ausgingen. Antonia hatte nie in die allgemeine Gesellschaft gepasst, dennoch war sie von Natur aus keine Einzelgängerin. Wenn sie eine Zeit lang ohne Reisebegleitung unterwegs war, dann konnte die Einsamkeit sie schnell an den Rand der Verzweiflung bringen. Hin und wieder langweilte sie sich, auch wenn dies inzwischen nur noch selten vorkam. Sie lebte zum Großteil ohne Internetverbindung, ein Handy besaß sie nur zur Orientierung und für wichtige Anrufe. Die meiste Zeit ihres Tages verbrachte sie damit, sich selbst am Leben zu erhalten. Das Geld, welches sie in Mississippi verdient hatte, würde ihr für die nächste Woche reichen, weshalb Antonia an diesem Tag entspannen konnte. Sie lungerte auf Bänken oder an Straßenecken herum, während sie Essen aus dem örtlichen Supermarkt aß und sich fragte, was sie als nächstes tun sollte. Als es dunkel war, wechselte sie in einer öffentlichen Toilette die Kleidung und verwahrte ihren Rucksack in einem Schließfach am Bahnhof, für das sie viel zu viel Geld bezahlte. Es war Zeit für Antonia, sich im grünen Kleid und mit der kleinen Handtasche an ihrer Seite auf die Suche nach Gesellschaft zu machen. Wie auch immer diese Gesellschaft aussah und was sich daraus ergeben würde, das war noch unklar, Antonia wusste nur, dass sie menschlichen Austausch brauchte. Da es mitten unter der Woche war, musste sie einige Zeit suchen, bis sie eine Eckkneipe fand, an der sich keine alten Rednecks herumtrieben, sondern Leute, die näher an ihrem Alter waren. Die Kneipe war irisch angehaucht, die Wände waren grün gestrichen und auf den Tischen standen kleine Koboldfiguren. Antonia war relativ früh dran, sie vermutete dies war der Grund, aus dem die Kneipe relativ leer war. An einem Tisch in der Nähe des Eingangs saß eine Gruppe junger Frauen, am Nebentisch spielten zwei Männer mittleren Alters Karten, ein weiterer älterer Herr saß an der Bar und trank ein Bier. Ganz dem Altersdurchschnitt entsprach Antonia hier auch nicht, aber immerhin stach sie nicht ganz so heraus wie beim letzten Mal. Andererseits sah es auch nicht so aus, als könnte sie heute jemanden mit ihren Schießkünsten beeindrucken. Als sie sich einen Platz weiter hinten suchen wollte, stellte sie fest, dass sich in der hintersten Ecke noch jemand versteckt hatte. Ein Mann in schwarzer Jacke mit kurzgeschorenem Haar, der gedankenverloren vor sich hin starrte und das volle Bierglas vor ihm nicht anrührte. Antonia setzte sich auf einen Platz, von dem aus sie ihn im Blick behalten konnte. Sie war nicht schüchtern, aber genauso wenig war sie aufdringlich. Sobald sie sich an einen der Tische setzte, kam ein Kellner angelaufen, um ihre Bestellung aufzunehmen. Antonia bestellte ein Glas Apfelcider und wartete. Sollte der Mann in der Ecke auf Freunde oder eine Dame warten, wollte sie ihn nicht stören, aber sie hatte im Gefühl, dass sie ihm heute noch ein wenig Gesellschaft leisten würde. Antonia hatte ein Gespür für Leute, die wie sie waren, sie musste die meisten Menschen nur ein wenig beobachten um sagen zu können, zu welchem Teil der Gesellschaft sie gehörten. Sie schätzte den Mann etwas älter als sie selbst, etwa um die dreißig, er war von Kopf bis Fuß in schwarz gekleidet und sah aus, als hätte er sich ein paar Tage nicht rasiert. Als Antonia genauer hinsah, erkannte sie den großen schwarzen Rucksack, den er unter der Eckbank versteckt hatte, auf der er saß. Dem Bierglas, das vor ihm auf dem Tisch stand, schenkte er keine Beachtung, er schien sich das Getränk nur gekauft haben, um in der Kneipe bleiben zu dürfen. Seine Hände lagen in seinem Schoß, er hatte kein Handy in der Hand, er starrte einfach vor sich hin und schien seinen Gedanken nachzuhängen. Vielleicht war er es gewohnt, untätig herumzusitzen und in die Luft zu starren. Während Antonia ihn unter die Lupe nahm, wandte er plötzlich den Kopf und blickte ihr in die Augen. Vor Überraschung stieß sie unwillkürlich ein Lachen aus, was ihm auch ein Lächeln entlockte. Sie hatte unfreiwillig das Eis gebrochen, dies war der ideale Zeitpunkt, um ihn anzusprechen. Antonia nahm ihr Glas und ging gemächlich auf ihn zu.

»Ich hab schon gemerkt, dass du mich die ganze Zeit anschaust.«, bemerkte er, ohne auch nur im geringsten verärgert zu klingen.

»Ich habe mich gefragt, ob ich dich ansprechen kann oder ob du auf ein Date wartest.«, erklärte Antonia und setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl.

»Ich habe kein Date, keine Sorge.« Der Mann lachte und betrachtete sie neugierig. »Du siehst eher aus, als ob du ein Date hast.«

Antonia schüttelte den Kopf.

»Zumindest bin ich nicht verabredet.«

»Willst du nicht meinen Namen wissen, bevor du mit mir flirtest?«

»Wenn du schon fragst.«

»Mein Name ist Abraham.« Er sah sie erwartungsvoll an.

»Willst du meinen echten Namen oder meinen Straßennamen?«

»Wieso hat eine Frau wie du einen Straßennamen?«

»Wieso heißt jemand in deinem Alter Abraham?« Abraham zuckte die Schultern.

»Christliches Elternhaus.« Er legte den Kopf schief. »Dein echter Name ist mir lieber.«

»Ich heiße Antonia.«

»Antonia.«, wiederholte Abraham, als hätte er den Namen noch nie gehört. »Nennen dich die Leute dann Toni?«

»Mein Straßenname ist Tiny Toni.«, erklärte Antonia lachend.

»Das ergibt so viel Sinn, dass es mich beinahe anwidert.« Abraham schüttelte den Kopf. »Die kleine Toni. Na ja, immerhin kann man sich das merken.«

»Genau das ist der Sinn dahinter.«

»Groß bist du ja wirklich nicht, wenn ich das mal so sagen darf.«

»Ein Arzt hat mir mal gesagt, ich bin kleinwüchsig.«

»Ach, wie süß.« Abraham lachte. Bevor Antonia ihn angesprochen hatte, hatte sie ihn als sozial unbeholfenen Außenseiter eingeschätzt, aber sie unterhielten sich erst seit wenigen Minuten und das Gespräch lief bereits so flüssig, dass es sie fast schon beunruhigte. Vielleicht war Abraham ihr ähnlicher, als sie es für möglich hielt.

Tiny Toni (2022)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt