Abraham schlief in einem kleinen Hotelzimmer, wohin Antonia ihn begleitete, nachdem sie um elf Uhr nachts die Kneipe verließen. Sie unterhielten sich seit ein paar Stunden, Antonia hatte ihm einige der Standardfragen gestellt, die sie für Dates bereit hatte, aber daran schien Abraham nicht interessiert zu sein. Er wollte nicht von seinen Geschwistern oder Zukunftspläne reden. Im Verlauf des Gesprächs glaube Antonia fast schon, sich in ihm geirrt zu haben, denn er rückte so lange nichts über sich heraus, bis Antonia anklingen ließ, dass sie eine Landstreicherin war. Als Antonia erzählte, dass sie auf Zügen von Stadt zu Stadt zog und kein Zuhause hatte, schien eine Wand in seinem Inneren in sich einstürzte. Plötzlich erzählte er ihr davon, dass er mit seinem Auto unterwegs war, um nach Arbeit zu suchen. Antonia konnte ihn gut verstehen, niemand gab gern seine Obdachlosigkeit zu, nicht einmal sie selbst. Allein dadurch, dass sie offen darüber mit ihm sprach, konnte sie jedoch Abrahams Vertrauen gewinnen, er vertraute ihr so sehr, dass er ihr vorschlug, sie könnte bei ihm im Hotel schlafen, als sie erzählte, dass sie für heute Nacht keinen Schlafplatz hatte.
»Du siehst nicht obdachlos aus, wenn ich das mal so sagen darf.«, bemerkte Abraham auf dem Weg dahin.
»Ich kann mich gut unter die Allgemeinbevölkerung mischen.«, erklärte sie und zuckte die Schultern. Abraham war in einem Hotel untergekommen, das in der Nähe der irischen Kneipe lag, sein Hotelzimmer war so klein, dass es fast vollständig von einem mittelgroßen Bett und einem kleinen Sofa ausgefüllt wurde. Das Sofa war bereits belegt.
»Das ist mein Bruder Jared.«, erklärte Abraham und deutete mit dem Kopf auf dem Mann auf dem Sofa. Unter einer Wolldecke lugte ein Kopf voll wirrem, schwarzen Haar hervor, dessen Mund offen stand, als befände er sich im Tiefschlaf.
»Stören wir ihn nicht?«, fragte Antonia leise.
»Ach was!« Abraham winkte ab. Er zog sich nur die Schuhe aus und ließ sich vollständig angezogen auf dem Bett nieder. Antonia tat es ihm gleich, auch wenn ihr die Situation nicht ganz geheuer war. Abraham zog seine Jacke aus und warf sie einfach auf den Boden. Ohne Jacke sah er noch hagerer aus als zuvor.
»Schon müde?«, fragte er mit einem Seitenblick auf Antonia, worauf sie augenblicklich den Kopf schüttelte.
»Einen gesunden Schlafrhythmus kann man bei unserem Lebensstil vergessen.«, bemerkte Abraham. »Aber morgen kannst du so lange schlafen, wie du willst, ich muss erst übermorgen hier raus.«
Er ließ seinen Blick auf Antonia ruhen.
»Hast du nur das Kleid zum anziehen?« Antonia nickte.
»Ich habe meinen Rucksack in einem Schließfach am Bahnhof.«, erklärte sie. »Glaub nicht, dass ich im Kleid und mit hohen Schuhen auf Züge springe.«
Mit dieser Aussage brachte sie Abraham zum Lachen.
»Wo hast du denn geplant, heute zu schlafen?«
»Ich habe gar nichts geplant.«
»Ach, so ist das.« Abraham verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
»Hast du gehofft, jemand lädt dich zu sich nach Hause ein?« In diesem Moment fühlte Antonia sich ertappt und begann, unbeholfen zu kichern.
»Es funktioniert offensichtlich.« Sie zuckte die Schultern und betrachtete Abraham von der Seite.
»Wirst du dann oft... körperlich ausgenutzt?«
»Was heißt hier körperlich ausgenutzt?« Antonia betrachtete Abraham und zog die Augenbrauen zusammen.
»Du bist eine schöne Frau, die einsam ist und einen Platz zum Schlafen sucht. Du denkst doch bestimmt, ich habe dich mitgenommen, um mit dir zu schlafen, oder?«
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Tiny Toni (2022)
RandomAntonia Brunelli ist eine Außenseiterin, seit sie sich erinnern kann. Sie genießt das Hobo Leben im wirtschaftlich ruinierten Amerika und fährt auf Güterzügen durch das Land. Das einzige was ihr zu schaffen macht, ist die ständige Einsamkeit auf den...